Gelähmtes Morgenland

Das Unbehagen vieler Muslime gegenüber der westlichen Moderne hat Gründe, die auch mit der kulturellen Selbstbeschränkung der „orientalischen Länder“ zu tun haben. Gerade die Bewegung gegen den Kolonialismus in Nordafrika Anfang der Sechzigerjahre hat die Liberalität in Ländern wie Tunesien und Algerien unterdrückt. Die Verachtung gegenüber der modernen Vulgarität des Westens wird zum moralischen Gefängnis

von HÉLÉ BÉJI

Der orientalische Mensch von heute ist ein zutiefst einsames Wesen, aber seine Einsamkeit wurde nicht zum Ferment des Aufbegehrens und des Ungehorsams – jener schmerzhaften und stillschweigenden Voraussetzung der Freiheit. Seine Einsamkeit wurde von einer fast spontanen Unterwerfung unter die politische Willkür aufgefangen, die selbst dem Klarsichtigsten die innere Bereitschaft nimmt, seinen Zielen Form, Substanz und Elan zu verleihen.

Die Gewalt, die er – abgesehen von der Armut – zu spüren bekommt, ist die Verweigerung des Rechts, die Verlogenheit der Information, die Tyrannei der Regierung, die Fiktion einer Verfassung, die Würdelosigkeit der Richterschaft, die Überwachung durch die Partei, die Farce der Wahlen et cetera. Mit anderen Worten: Alle Legitimität, die der neue Despotismus an sich gerissen hatte, hat jeglichen Widerstandsgeist in ihm abgetötet. Daher ist er ebenso unfähig zu handeln wie sich zu orientieren. Unfähig, die Ursachen seiner Unterwerfung zu begreifen, fügt er sich in eine Hörigkeit, die den Kolonialismus weithin überlebt hat. Diese Unterwürfigkeit des Kolonisierten wurde durch die nationale Unabhängigkeit und die nationale Idee mit einer zusätzlichen – unvorhersehbaren und tückischen – Rigorosität genährt, die viel tiefgreifender ist, als dies während der Kolonialzeit der Fall gewesen war.

Sie ging nämlich in jenem Dazugehörigkeitsgefühl auf, in dem jede Vorstellung von dauerhaften Freiheitsrechten wie in einer Reuse gefangen ist: Die Identität trat an die Stelle der Freiheit, die Partei an die Stelle des Gewissens, der Militarismus an die Stelle des Staatsbürgergeistes, der Staat an die Stelle des Rechts, die Diktatur an die der Republik. Seit der Unabhängigkeit erlebte der „Staatsbürger“ eine Reihe von Gewaltakten, die er unbewusst selbst verursachte und deren heimtückischer Agent er war, worauf er sich anschließend als ihr Opfer wiederfand.

Der moderne orientalische Despotismus ist ein unbewegliches Zentrum mit einem gefräßigen Umfeld, dessen obszönste Formen der Personenkult und eine permanente Fiktion offizieller Verlautbarungen sind. Seine idealisierten Erscheinungsformen haben sich auch in der Kultur ausgebreitet und finden in den Intellektuellen die narzisstischen und puritanischen Begleiter des politischen Abenteurers.

Die Einheitspartei, die schwülstige Sprache der Reden und Leitartikel, die Beweihräucherung der Führer, die historische Selbstgefälligkeit, Zensur und Propaganda – all dies sind nicht etwa zufällige Begleiterscheinungen dieser neuen Kultur, sondern ihre diffuse Übersetzung, die Stimmen ihrer Verschwörung. Diese Kultur grenzt an Überwachung, sie ist tief durchdrungen von dieser politischen Mentalität und wurde in ihren repressivsten Aspekten in Wirklichkeit zugleich mit der Unabhängigkeit geboren.

Die zweifelhafte Liebe, die Herren und Untertanen miteinander verbindet, die Einschüchterung durch die Partei, die Usurpation von Ämtern und Titeln, die Xenophobie, die Beschwörung des kulturellen Erbes, die weihevolle Kostümierung der neu geschaffenen Institutionen – all dies ist von einem schwer zu fassenden Klima der Intoleranz beherrscht.

Man erkennt selbst in den weltlichsten politischen Aktionen die Einschüchterungskraft der Religion: die Vergötterung des Herrschers, die maßlose Verherrlichung seiner Person, seine Gleichsetzung mit der Vorsehung, seine beinahe übernatürliche Aura samt Hagiographie, Heiligsprechung und Unsterblichkeit. Diese Sakralisierung wirkt auch auf die widerspenstigsten und rationalsten Geister.

Und am Ende fixieren sie unbewusst ihr gesamtes Denken auf ein demiurgisches Prinzip, durch das der Staat selbst zu einem lebenden Organismus wird. Sein Bild infrage zu stellen, kommt auch ihnen einem Angriff auf die Instanz der Nation gleich.

Wenn der orientalische Mensch zu seiner großen Überraschungt entdeckt, dass die Berufung auf das Recht die guten Sitten und das Rechtsempfinden beleidigt, dass Abgeordnete, Staatsbeamte, Gesandte, Gouverneure, neue und alte Minister, Botschafter, Notabeln und Bankiers als Repräsentanten der Nation an keinem einzigen Tag ihres Lebens ihrem wahren Gesicht als Staatsbürger begegnet sind oder in sich selbst seine Stimme wiedererkannt haben, wenn er entdeckt, dass die Verfassung nur die Bemäntelung der Nichtteilhabe ist, die Wahlen nur ein Plan der Beraubung und die „Kultur“ eine Verfälschung des ethischen Lebens – wenn er all dies erkannt hat, findet er auf der anderen Seite des Abgrunds das staatsbürgerliche Bild des Westens wieder: Parlamente, Zeitungen, Gewerkschaften, Verfassungen, Rechtsprechung et cetera –, moderne Schatten, die allmählich von ihm Besitz ergreifen wie unauslöschliche Begleiter, wie die Luft, die er atmet, wie eine tief greifende Identität.

Die Glaubwürdigkeit der neuen Despotien wird, was immer sie tun, ständig durch etwas erschüttert, was sie schließlich selbst erdrückt, nämlich das Gefühl für Recht und Gesetz. Die Moderne setzt der politischen Entfremdung eine gesetzliche Grundlage entgegen, die jenseits des örtlichen Territoriums steht. Und der Okzident wird zu einer rettenden Zuflucht, zu einem eigenen Bild, zu einer Instanz, zu einem Bewusstsein. Der Abglanz der modernen Welt hat sich, ohne dass der Orientale es bemerkt oder gewollt hätte, in all seinen Beziehungen zu den Dingen, im Dialog mit seinesgleichen und in seiner Begegnung mit sich selbst ausgebreitet. Doch er hat sich nicht darum bemüht, diese Welt kennen zu lernen oder zu entschlüsseln. Er hat lediglich versucht, ihr die Rivalität einer Tradition entgegenzusetzen, die ihrerseits nur ein epigonaler und verfälschter Niederschlag der Moderne ist, der alle Symptome der Hassliebe eines Verliebten gegenüber der unwiderstehlichen Versuchung der Technik aufweist.

Wenn seine Tradition ihm in keiner Weise hilft, die moderne Welt zu überwinden, wenn sie ihre Rolle nicht erfüllen kann, die Gegenwart zu erhellen und zu begreifen, wenn sie aus sich selbst nur die Energie zur Heuchelei schöpft und das Trugbild einer entscheidenden Konfrontation mit dem Okzident erzeugt, um das Fehlen einer Alternative zu vertuschen, dann ist der orientalische Mensch nie so weit von jenem Horizont der Spiritualität entfernt gewesen, die er in seiner eher oberflächlichen Vision dem abendländischen Materialismus entgegenhält.

Mag er sich aus Verachtung gegenüber der modernen Vulgarität auch als humaner, genussfähiger, kontemplativer, beständiger und zivilisierter als der Abendländer darstellen, so ist dieses Bild, hinter dem er sich verschanzt hat, zu einem moralischen Gefängnis geworden, das in ihm die asketische Fähigkeit zur Kreativität zerstört. Ob er wirklich nach einem Gemeinschaftsschicksal, nach einer weniger individualistischen Moral und nach einem geselligeren Leben strebt, wie er ständig behauptet, ist sehr die Frage. Die Ungerechtigkeit und Ungleichheit in seiner Gesellschaft ist nämlich so unerträglich wie die brutale Gleichgültigkeit der Bürger untereinander, wie die Unreife und Verweichlichung der Bourgeoisie und schließlich wie die absolute Einsamkeit gegenüber der Tyrannei.

Zu selbstgefällig, zu zufrieden, zu narzisstisch in der Wertschätzung seiner eigenen Person und der anderen, verliert er seinen Bezug zur Spiritualität umso mehr, als er die Moderne nur als Herrschaft der Materie, die Gegenwart nur als Verflachung der Vergangenheit, den Okzident nur als kurzzeitige Aufblähung der Technik betrachtet. Diese Sichtweise ist nicht nur das Resultat der trivialen Ideen, wie sie jede Epoche hervorbringen kann, sondern sie entspricht auch der Natur der gegenwärtigen orientalischen Gesellschaft im Umbruch: Hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Frustration, lässt sie sich von den materiellen Gütern des europäischen Überflusses und den Segnungen der Moderne verlocken, wobei die politische Klasse, sobald sie zur Macht gelangt, ihnen besonders hemmungslos verfällt.

Die Unfähigkeit, die Gegenwart zu begreifen, ist auch ein Verkennen seiner selbst, und die Spiritualität, die der Orientale dem Okzident abspricht, ist die, die er in seinem eigenen Innern nicht findet. Sein Blick, der auf das gerichtet ist, was ihn beseelt, war nie so tief in die Materie versenkt wie in dem Augenblick, in dem er sie zu bekämpfen glaubte.

Weil er die Erfahrung der Emanzipation und auf eine tiefere Art die immaterielle Erfahrung der Freiheit nicht gemacht hat, fehlt ihm in seinem Bezug zu dieser Welt gerade das Wesentliche, das sie ausmacht. Deshalb kann er seinen Platz in ihr nur als weitere Unterwerfung unter ihre Macht empfinden.

Dieses spirituelle Stadium der Freiheit ist etwas, vor dem er Halt macht und zurückschreckt wie vor etwas Fremdem, Feindlichem, Bedrohlichem, wovon er lediglich das mechanische Rumoren vernimmt. Seine Ablehnung des Abendlandes, in dem er seinen eigenen Untergang zu sehen glaubt, ist die panische Angst vor einer Selbstprüfung, der er sich nicht unterziehen will, und die Weigerung, seine eigene Erfahrung der Freiheit zu analysieren. Im Glauben, ein anderes Gesicht der Humanität zu zeigen, behindert er gerade seine eigene Menschlichkeit, sein noch unbekanntes, unterdrücktes Gesicht.

Die Erfahrung der Moderne ist jene spirituelle Erfahrung der Freiheit, und sie erdrückt ihn, denn sie ist kein äußerer Feind, den er hassen, verachten oder ignorieren kann. Sie ist vielmehr der Augenblick seiner Begegnung mit sich selbst, der unvollendete und unterdrückte Moment seiner Lage als Mensch, die ihm noch nicht klar werden und das Bild seiner vollkommenen Freiheit, das er nicht sehen will.

HÉLÉ BÉJI, 1950 in Tunesien geboren, studierte an der Sorbonne Literatur und Geschichte, ehe sie an verschiedenen Universitäten in Frankreich als Professorin unterrichtete. Ihr hier für das taz.mag gekürzter Beitrag – übersetzt von Wieland Grommes – ist dem Band „Islam, Demokratie, Moderne. Aktuelle Antworten arabischer Denker“ (Herausgegeben von Erdmute Heller/Hassouna Mosbahi, Verlag C.H. Beck, München 1995) entnommen