„Den Taliban die Basis entziehen“

Die afghanische Soziologin Mariam Notten über das Islamverständnis der Taliban, die Lage der Frauen in ihrer Heimat und den Sinn von Schutzzonen

taz: Was empfinden Sie angesichts der Entwicklungen um Afghanistan?

Mariam Notten: Afghanistan ist schon einmal von einer Großmacht überrollt worden, nun kommt die zweite. Die Grenzen sind dicht, die Zivilbevölkerung ist eingekesselt. Ich habe sehr mit den Menschen in New York mitempfunden, die um ihre Angehörigen bangten. Ich lebe seit über zwanzig Jahren in dieser Situation, denn seit dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan habe ich nichts mehr von meiner 40-köpfigen Familie gehört. Ich weiß nicht, ob sie noch leben. Nur eine Schwester mit ihren zwei Kindern konnte sich retten. Jahrzehntelang habe ich diese Trauer verdrängt, jetzt kommt sie wieder hoch.

Halten Sie es für möglich, Bin Laden und seine Krieger mit einem Militärschlag auszuschalten und die Zivilbevölkerung zu schonen?

Ich glaube nicht. Niemand weiß, wo er sich derzeit versteckt. Trainingslager lassen sich leicht auflösen. Die Berge waren schon immer ein fast unüberwindbares Rückzugsgebiet, auch für die Kämpfer gegen die Sowjetunion. Was soll man da bombardieren, außer den Dörfern am Fuße der Berge? Offenbar will man die Nordallianz quasi als Bodentruppe der Nato einsetzen.

Was sind das für Leute?

Es sind die alten Widerstandsparteien von Hekmatyar, Rabani und Dostum. Alle drei haben sich gegenseitig bekämpft, weil sie die alleinige Macht haben wollten – bis die Taliban die Herrschaft übernahmen. In ihrer Grausamkeit und ihrer Einstellung zu Frauen sind diese Gruppen kein bisschen besser als die Taliban. Auch bei ihnen wurden Frauen verschleiert, sie durften nicht zur Schule, sie wurden gesteinigt. Dostum und seine Truppe haben Massaker an ethnischen Minderheiten verübt und Frauen vergewaltigt. Für die afghanische Bevölkerung bieten die Nordallianz keine Perspektive, solange sie nicht international begleitet und bewacht wird.

Hat dieser brutale Fundamentalismus Wurzeln im Land?

Er ist ein Fremdprodukt, das Pakistan und die USA gemeinsam gezüchtet haben. Früher hatten wir einen liberalen Islam: Der Glaube galt als etwas sehr Persönliches und Individuelles. Die Tradition der Koranschulen kennen wir nicht. Der Koran wurde uns in der Schule neben anderen Fächern gelehrt. Der Islam der Taliban ist in meinen Augen gar keiner. Nach dem Einmarsch der Sowjets ließ Pakistans Militärregierung überall in den Flüchtlingslagern Koranschulen errichten, finanziert von den USA und Saudi-Arabien. Dort wurden wurzellose Kriegswaisen jahrelang indoktriniert.

Als 1.500 bewaffnete Taliban die Grenze zu Afghanistan überquerten, erhielten sie im Nu ungeheuren Zulauf, weil sie auf archaische Weise für Ordnung sorgten. 1994 übernahmen sie Kandahar im Süden, 1996 Kabul und fast den ganzen Rest des Landes. Die Taliban sind die Zauberlehrlinge, deren ihr Meister nicht mehr Herr wird. Sie zerstören ihre eigene Kultur. Nach dem alten paschtunischen Ehrenkodex darf man Frauen nicht steinigen und nicht in der Öffentlichkeit erschießen. Das entspricht keiner afghanischen Tradition.

Entsprach die Aufforderung der tausend Geistlichen an Bin Laden, das Land freiwillig zu verlassen, diesem Ehrenkodex, oder war das ein taktischer Schachzug?

Die Taliban haben keinen Ehrenkodex, diese alten Mullahs schon. Danach darf man niemandem Asyl verwehren, selbst wenn er ein Mörder ist – auch um den Preis des eigenen Kopfes nicht. Aber Bin Laden verstößt selbst gegen den Ehrenkodex, denn auch ein Gast hat Pflichten und muss die Gastgeber schonen.

Sind Fundamentalismus und Terrorismus Fremdprodukte?

Der Terrorismus wurde nach Afghanistan importiert. Wir haben 14 Jahre lang gegen die Sowjets gekämpft und weder Krieg noch Terror ins Ausland exportiert. Die demokratisch-antifundamentalistische „Revolutionäre Assoziation afghanischer Frauen“ (Rawa) hat vor kurzem eine Erklärung durchs Internet geschickt, in der sie davor warnt, mit einem Krieg den Terrorismus noch zu verstärken.

Was ist das für eine Gruppe?

1968 gab es auch in Afghanistan eine Studentenbewegung. Einige weibliche Intellektuelle, die links, aber nicht prosowjetisch waren, haben Rawa 1977 in Kabul als Frauenrechtsorganisation gegründet. Nach dem Einmarsch der Sowjets gingen sie nach Pakistan und organisierten sich in der Grenzstadt Quettar und in Peschawar. Erst leisteten sie Widerstand gegen die Sowjets, dann gegen die Taliban. Sie eröffneten Schulen und ein Krankenhaus für Flüchtlinge. Sie unterstützten traumatisierte Frauen, bauten geheime Zellen in Kabul auf und organisierten Mädchenschulen im Untergrund. Dass sie die vielen Angriffe der Islamisten überlebt haben, grenzt an ein Wunder. Diese Frauen arbeiten ständig unter Lebensgefahr.

Hat die Frauenverachtung Tradition in Afghanistan?

Nein. Ich kann zwar nicht behaupten, dass Frauen gleichberechtigt gewesen wären. Aber in ihrem Bereich waren sie autonome und selbstbewusste Persönlichkeiten. In den Sechzigerjahren hatten wir drei Ministerinnen im Parlament – in Deutschland gab es das erst später. Mit Unterstützung der Regierung wurden viele Frauen wie ich zum Studieren ins Ausland geschickt.

Trugen die Frauen Schleier?

Auf dem Land nicht, die Bäuerinnen trugen ein loses Kopftuch. In den Städten dagegen schon. Der Schleierzwang wurde in den Fünfzigerjahren aufgehoben. Dennoch trugen ihn einige unserer Mütter. Ich selbst bin in Kabul ohne Schleier aufgewachsen. Mit Schleier in die Schule zu gehen war sogar verboten.

Manche sagen, man könne die Taliban auch ohne Militär stürzen. Geld sei die beste Waffe.

Das sehe ich auch so. Die Taliban haben es ja selbst so gemacht. Wenn die Kommandeure sagen würden, legt eure Waffen nieder, ihr kriegt Geld dafür, würden das sicher viele tun. Viele Kommandeure der Taliban sind übrigens Pakistanis, vom dortigen Geheimdienst gelenkt. Die pakistanische Regierung hat durchaus Möglichkeiten, sie zu beeinflussen. Das lässt sich Pakistan jetzt vom Ausland reichlich bezahlen.

Andere Militärstrategen sagen, man muss die Taliban nur aushungern.

Die hungern als Einzige nicht, denn sie haben die UN-Nahrungsmittelvorräte beschlagnahmt. Die einfache Bevölkerung hungert, besonders Kriegswitwen und ihre Kinder. Die Zivilbevölkerung zu opfern, das ist grenzenlose Ungerechtigkeit.

Sollten die USA lieber Nahrungspakete abwerfen?

Die Amerikaner sollten im Land Schutzzonen für die Zivilbevölkerung einrichten. Diejenigen, die aus materieller Not für die Taliban kämpfen, könnten desertieren und die Schutzzonen aufsuchen. Dadurch würde den Taliban die Basis entzogen. Hilfsorganisationen könnten Lebensmittel liefern. Die Amerikaner würden nicht als Aggressor vor der Weltöffentlichkeit dastehen und keine neuen Terroranschläge provozieren. Wenn die Grünen die Entsendung von Bundeswehrsoldaten nicht verhindern können, dann sollten sie sich im Bundestag für ein solches Modell einsetzen. INTERVIEW: UTE SCHEUB

Frauenrechtsorganisation Rawa im Net: http://rawa.fancymarketing.net