Splitter und Splatter

Eine Terrorismusfarce und andere Premieren mit tödlichem Ausgang: Martin McDonaghs „Der Leutnant von Inishmore“ unter der Regie von Jan Jochymski und Michael Thalheimers „Emilia Galotti“ eröffneten die Spielzeit am Deutschen Theater in Berlin

von CHRISTIANE KÜHL

Natürlich ist es nicht fair, alle Theaterpremieren dieser Tage an den Geschehnissen in den USA zu messen. Der Tod, die Emotions-, selbst die Bildkraft des Terrors stehen außerhalb jeder Konkurrenz. Dass in Berlin die Eröffnung der Saison in die Woche der Anschläge fiel, führte darüber hinaus zu einer schwierigen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen; alle aufgeführten Stücke waren ja längst geschrieben und zum großen Teil auch vorher geprobt worden. Gerecht ist es nicht, die Inszenierungen an Ground Zero zu messen, aber gerechtfertigt: Wozu sonst soll sich das Theater ins Verhältnis setzen, wenn nicht zur Wirklichkeit?

Das Deutsche Theater, das in den vergangenen zwölf Tagen seine erste Spielzeit unter der Intendanz von Bernd Wilms startete, hatte vier Premieren mit tödlichem Ausgang im Programm. Lorcas „Bluthochzeit“, „Antigone“ nach Sophokles, Lessings „Emilia Galotti“ sowie die deutsche Erstaufführung – zeitgleich mit einer Inszenierung Patrick Schlössers in Bochum – von Martin McDonaghs „Der Leutnant von Inishmore“. Dieses 1995 verfasste Stück des irischstämmigen Londoners wurde unverhofft zu einer der mit größten Erwartungen verhafteten Premiere. Es ist eine Terrorismusfarce. „Das Lachen, das in der Katastrophe endet, interessiert mich am meisten. Auch im Leben“, hatte Jan Jochymski, der die Berliner Aufführung einrichtete, bei einer Pressekonferenz Anfang des Monats erklärt. Sie hätten viel Spaß bei den Proben, auch wenn es merkwürdig sei, abends in den Nachrichten dann die zu Tode erschrockenen katholischen Kinder zu sehen, die in Belfast auf dem Weg zur Schule durch protestantisches Gebiet wie ein Minenfeld laufen müssten. Auch dort ist die Situation inzwischen nicht besser geworden. Der Polizeichef der nordirischen Hauptstadt nannte die Straßenkämpfe am Vorabend der Berliner Premiere die schlimmsten seit 30 Jahren.

Der 31-jährige McDonagh hat ein Stück über den Bankrott der Rebellion geschrieben, über das Leerlaufen der zirkulären Phraseologien der irischen Fanatiker. Hauptfigur ist Padraic (Peter Ehrlich), genannt Padraic, der Durchgedrehte. Sogar der IRA war er zu durchgedreht, weshalb er sich der Splittergruppe INLA anschloss, von der er sich aber wieder abspalten will. „Splittern aus einer Splittergruppe – das beweist, du weißt, was du willst.“ Gerade ist seine Katze ums Leben gekommen, was ihn dabei unterbricht, einem Dealer die Zehennägel auszureißen. Stattdessen fährt er heim und rächt den Katzentod mit dem Hirnrausputzen von einem weiteren Kater sowie von drei alten Terroristenkumpels, die allerdings vorher auch kaum Hirn hatten. Sein Vater und der schwuchtelige Bruder seiner neuen Freundin zersägen die Körper im Wohnzimmer. Alles wird immer wahnwitziger, bis endgültig außer Frage steht, dass Terrorismus ein Kinderspiel von Minderbemittelten ist.

McDonaghs Farce ist gut gebaut, sprachlich luzide komisch, tangiert allerdings keine einzige Frage, die derzeit in Zusammenhang mit Terrorismus und Fanatismus interessiert. Und Jan Jochymski, der in den letzten Jahren mit der Gruppe TheaterSchafft ein paar schöne freie Projekte erarbeitet hat, hat dem nichts hinzugefügt – seine Inszenierung folgt so brav dem Text, dass man sich fragt, ob Theatermacher eigentlich sehr viel heller als die porträtierten Berufsterroristchen sind. Eine well-made Terrorfarce im dramatischen Business-as-usual ist jedenfalls ziemlich überflüssig heute.

Einen großen Theaterabend gestalteten hingegen Michael Thalheimer und der Bühnenbildner Olaf Altmann, von denen zwei Inszenierungen („Das Fest“ und „Liliom“) auch im Mai beim Theatertreffen in Berlin zu sehen waren. Nicht, dass sie einen Kommentar zum aktuellen Geschehen geliefert hätten – doch hat ihre „Emilia Galotti“ eine Kraft und Konzentration auf ein subjektiv gewähltes Wesentliches, das trotz aller momentanen emotionalen Überforderung tief berührt, so naiv der Begriff klingen mag. Lessings Drama über einen willkürlichen Prinzen, der die Hochzeit der angebeteten Emilia aus purer Selbstsucht vereiteln will, woraufhin sein Kammerdiener, ebenfalls von persönlichen Motiven geleitet, den angehenden Ehemann ermordet, wird hier zu einer Tragödie der egomanischen Individualgesellschaft. Thalheimer inszeniert Personen und Bewegungen im Raum. Das wirkt in seiner Präzision erst einmal kühl, legt jedoch umso mehr Bedeutung auf die sparsam gehaltenen, bisweilen eruptiv ausbrechenden Gesten. In Altmanns hohe, sich stark auf eine einzelne Tür im Zentrum der Rückwand verjüngende Bühne treten die Frauen wie auf einen Laufsteg: schön, selbstbewusst, unberührbar. Emilia (Regine Zimmermann) ist pure Projektionsfläche für den Prinzen (Sven Lehmann), der sie besitzen muss, weil er irgendetwas Starkes müssen muss. Wonach er sich verzehrt, ist nicht sie, sondern Erlösung aus der Beliebigkeit.

Das Drama, auf knappe anderthalb Stunden gestrichen, entfaltet seinen Rhythmus zwischen rasant gesprochenem Text und langen Bildern der Stille, fast durchgehend unterlegt von einer Violine, einem einzigen anschwellenden und abschwellenden Walzer von Shigeru Umebayashi. Altmanns anfangs auswegslos wirkende steile Wände entpuppen sich als überall durchlässig, was jedoch Verwirrung statt Freiheit für die Figuren bedeutet.

Das Licht wandelt den Raum mit Fortschreiten der Tragödie in eine Kathedrale. Am Ende erdolcht nicht der Vater Emilia, um sie vor der Schändung zu bewahren, sondern die Frau nimmt seine Pistole und verschwindet lautlos in einem plötzlich hereinbrechenden Rudel schwarzer Tänzer. Das Programmheft zitiert Anna Achmatowa: „Alles ist bereit zum Tod. Am Dauerhaftesten auf Erden ist die Trauer. Es überlebt: das königliche Wort.“ Bei Thalheimer sind es schmerzhafte Bilder, die sich tief einbrennen.