Milchschweine im Diskurs

Ihn einfach vergessen? Oder ihn doch besser beim Wort nehmen? „Zwischenbilanz einer Rezeption“, eine mehrtägige Konferenz über das Werk Michel Foucaults in der Frankfurter Goethe-Universität

von RENÉ AGUIGAH

An der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert, so könnte es ein zukünftiger Archäologe schreiben, erfreute sich ein kleiner Text eines jungen Basler Philologieprofessors einer bemerkenswerten Beliebtheit. Er geisterte durch Literatur-, Film- und Gender-Seminare, war schon früh als Online-Text verfügbar und wurde gern in den Mailing-Lists amerikanischer Colleges diskutiert. Der Titel des Aufsatzes hieß „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, der Autor Friedrich Nietzsche, und die am häufigsten zitierten Wendungen lauten so: Was ist Wahrheit? Ein „bewegliches Heer von Metaphern“, „Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“, „Münzen, die ihr Bild verloren haben“.

Als Michel Foucault diesen Text 1973, hundert Jahre nach seiner Entstehung, in einer Vorlesung an der katholischen Universität von Rio de Janeiro las, da interessierte er sich nicht für Satzfetzen, die wie geschrieben scheinen für die bunten Neunzigerjahre; er konzentrierte sich auf den ersten Satz: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden.“

Foucault stellt Nietzsches Frechheit heraus: Da hatte es jemand gewagt zu behaupten, die Erkenntnis sei zu einem bestimmten Datum, an einem bestimmten Ort erfunden worden; Raum und Zeit seien keine ahistorischen Anschauungsformen. Die Wahrheit muss also eine Geschichte haben, folgerte Foucault, eine Geschichte, die außerhalb der Erkenntnis selbst liegt.

Foucaults Interesse an der Wahrheit war zu diesem Zeitpunkt keineswegs neu. Schon „Wahnsinn und Gesellschaft“, dieses heute vierzig Jahre alte Buch, das sein Autor in schöner Regelmäßigkeit als sein erstes bezeichnete, enthielt viele Aussagen über die „Wahrheit“, nur diejenige nicht, dass nämlich Wahrheit gar nicht existiere.

Paul Veyne, Professor am Collège de France wie einst Foucault, rückte diese Feststellung gleich an den Anfang seines Vortrags, den er zur Eröffnung einer Konferenz über das Werk Michel Foucaults in der Frankfurter Goethe-Universität hielt. Dass Veyne Foucaults konstantes Interesse an der Wahrheit und ihrer Problematisierungen zum zentralen Motiv seines Streifzugs durch das Werk seines Freundes machte, war nicht ohne Ironie, denn immerhin sprach er in einem Hörsaal derselben Uni, an der Jürgen Habermas 1983 die Klage gegen seine französischen Generationsgenossen Foucault und Derrida formulierte: Relativismus, Subjektivismus, Antimodernismus. Diesen Pariser Denkern musste die Kategorie der Wahrheit fremd sein. Verglichen mit jener Zeit der Bilanzen, die die eine „Moderne“ mit der anderen „Postmoderne“ aufrechnete, war der Titel der Frankfurter Tagung über Michel Foucault vorsichtig gewählt: „Zwischenbilanz einer Rezeption“.

Axel Honneth, Habermas’ Lehrstuhlnachfolger an der Uni, nannte seinen Eröffnungsvortrag noch vorsichtiger den „Versuch einer Zwischenbilanz“. Als Direktor des Instituts für Sozialforschung war Honneth Initiator und Gastgeber dieser internationalen Konferenz, und doch waren seine Einschätzungen nicht gerade eine Ermutigung, sich dem Werk des Franzosen zuzuwenden. Zwar räumte er ein – gewissermaßen als Quittung für Foucaults „Eingeständnis“, er habe bestimmte Schriften der Frankfurter Schule zu spät zur Kenntnis genommen –, dass die Schriften des Franzosen eine frühere unvoreingenommene Lektüre verdient gehabt hätten. Aber in der Sache blieb er den zentralen Motiven der hergebrachten Kritik treu. 1985 hatte Honneth geschrieben, Foucault verstricke sich in der „Aporie einer totalisierenden Vernunftkritik“ – jetzt vermisste er in der Machtanalytik Maßstäbe, um zu beurteilen, worin eine bestimmte Lebensform einer anderen vorzuziehen sei. Früher belegte man Foucault frontal mit dem Vorwurf des Irrationalismus, nun charakterisierte Honneth den Franzosen als Autor „dunkleren“ Typs, der sprunghaft und diskontinuierlich gearbeitet habe und sich, etwa weil er sich nicht selbst zitiert habe, einer „homogenen Interpretationsgemeinschaft“ entziehe.

Honneths Zwischenbilanz sollte nicht die einzige Position bleiben, die wie ein abgeschwächtes Echo der schrillen Polemiken der Achtzigerjahre klang. Auch die aus New York angereiste Nancy Fraser wiederholte die Frage, die sie bereits Anfang der Achtzigerjahre stellte, nämlich die nach den normativen Standards der Foucaultschen Machtanalytik. Während Fraser jedoch damals den historisch-empirischen Gehalt der Gefängnis- oder Klinik-Studie würdigte, relativierte sie nun auch dies. Foucault sei ein „großer Theoretiker der fordistischen Gesellschaft“ gewesen, sagte sie, und meinte die westlichen Industriegesellschaften des „kurzen 20. Jahrhunderts“. Heute aber, im Zeitalter der Globalisierung, würden Individuen eher flexibilisiert als dressiert – und damit sei die Erklärungskraft des Begriffs der Disziplinargesellschaft verblichen. Foucault habe das Konzept im selben Augenblick entwickelt, als der Wohlfahrtsstaat seine Relevanz an die internationale Flexibilisierung abgetreten habe. Abgesehen von der allgemeinen Frage, wie die Macht in Abwesenheit des Königs operiere, sei Foucault also zu historisieren, sagte Fraser.

Ihren freundlich formulierten Appell, Foucault weitgehend zu vergessen – „Oublier Foucault“ war, aus anderen Gründen, schon 1978 ein Wunsch Jean Baudrillards –, wies der Sozialwissenschaftler Thomas Lemke ebenso freundlich vollständig zurück. Er führte ins Feld, dass Foucaults Untersuchungen über den deutschen Liberalismus fruchtbar für gegenwärtige Neoliberalismus-Debatten zu machen seien; er wies darauf hin, dass der Typ der Disziplinarmacht keineswegs der einzige gewesen ist, mit dem Foucault moderne Gesellschaften beschrieben hat; und er erinnerte an die eigentliche Pointe Foucaults, Machteffekte gerade in einer Weise zu denken, die ohne den Staat als Zentralkategorie auskommt: Deregulierung etwa sei eine Umschichtung von Zuständigkeiten, jedenfalls „nichts, was dem Staat äußerlich wäre“.

Die kurze Diskussion zwischen Fraser und Lemke hatte ihren sanften Höhepunkt, als die Amerikanerin sich nach einschlägiger Literatur erkundigte. Den Historiker-Philosophen historisieren? Damit hatte Fraser eine Frage aufgeworfen, die Foucaults LeserInnen 17 Jahre nach seinem Tod allerdings umzutreiben scheint. Während Paul Veyne zugleich die Aktualität des Denkens seines Freundes herausstellte und davon ausging, dass alle Thesen ihr Verfallsdatum haben, formulierte die Rechtswissenschaftlerin Cornelia Vismann (Frankfurt a. d. Oder) eine scharfe Gegenposition. Sie plädierte dafür, Foucault „beim Wort zu nehmen“ – und seine formalisierende Auswertung von verdateten Wissensbeständen nicht um 1850 enden zu lassen, sondern bis ins 20. Jahrhundert fortzuführen. Hier klang die Position jener deutschen Medienwissenschaft an, die an Foucaults archäologischen Analysen anknüpft, und man muss kein Freund des Objektivismus eines Friedrich Kittler sein, um spätestens an dieser Stelle auf einen grundsätzlichen Mangel dieser Konferenz aufmerksam zu werden: Breite Diskussionsstränge, ja ganze Disziplinen, die sich unmittelbar auf Foucault berufen, waren bei dieser Zwischenbilanz nicht vertreten, Ansätze aus den Postcolonial Studies ebensowenig wie die jüngste Fortschreibung des Biomacht-Konzeptes, wie sie der italienische Philosoph Giorgio Agamben vornimmt. Dass, abgesehen von Paul Veyne und Daniel Defert, dem Herausgeber der verstreuten Schriften Foucaults, französische Positionen nicht vertreten waren, lag auch daran, dass am selben Wochenende in Paris ein Kongress über Marx stattfand. Offenbar funktionieren die Frankfurter Verbindungen nach Paris nicht so reibungslos wie die in die Vereinigten Staaten.

Judith Butler präsentierte einem völlig überfüllten Hörsaal – mehr als 700 ZuhörerInnen zwängten sich auf und zwischen die Sitze – eine brillante Lektüre verschiedener machttheoretischer Schriften Foucaults. Behutsam durchschritt sie die verschiedenen Phasen seiner Denkentwicklung, markierte Bruchstellen zwischen den Texten und übersetzte schließlich Foucaults Subjektkritik in ihre eigene, von Hegel inspirierten Begriffe einer gegenseitigen Anerkennung von Subjekten – wobei Butlers Anerkennung Normen nicht nur bestätigt, sondern auch verschiebt und neue erfindet. Dass Butler den Saal mindestens ebenso dank ihres intelligenten Charmes wie durch ihre detaillierte Argumentation bannte, blitzte vor allem in der Diskussion auf: Die Moderatorin der Sektion hatte die Damen und Herren auf dem Podium als „Wissenschaftlerinnen“ vorgestellt, was das Publikum zum Lachen brachte – am Ende scharfer Protest eines Zuhörers: Was hier passiert sei, „ist immer noch die Konstruktion von Männern und Frauen!“ Butler gab zurück: Die Reaktion des Publikums sei doch jenem Gelächter vergleichbar, das Jorge Luis Borges’ – von Foucault zitierte – „chinesische Enzyklopädie“ hervorrufe: Eine Klassifikation, die einbalsamierte Tiere, Milchschweine, Fabeltiere und herrenlose Hunde unterscheidet, kann nichts erzeugen als Gelächter – der erste Schritt, die Welt in einer anderen Weise zu ordnen als bisher.