Kein Recht zum Krieg

Für einen US-Angriff auf Afghanistan gibt es keine juristische Grundlage. Auch der Nato-Bündnisfall liegt nicht vor

von GERD WINTER

Dies scheint die Stunde der Militärstrategen. Doch ist völkerrechtlich nicht alles erlaubt, was effektiv erscheint. Denn das Recht ist auf längere Dauer eingestellt, und das gegenwärtige Terrorismusproblem darf die große Errungenschaft der UN-Charta nicht zunichte machen: das Verbot zwischenstaatlicher Gewaltanwendung.

Erlaubt ist nur die individuelle und kollektive Selbstverteidigung gegen den bewaffneten Angriff eines Staates nach Artikel 51 der UN-Charta (siehe Kasten). Manche Völkerrechtler halten diesen Fall für bereits gegeben und mahnen lediglich das Verhältnismäßigkeitsgebot an, das zum Beispiel bloße Racheakte ausschließe. Was erforderlich sei, um Terrorakte zu verhindern, sei zulässig – einschließlich militärischer Einsätze gegen Staaten wie Afghanistan.

Die Vertreter dieser Auffassung sehen sich durch die Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 12. September bestätigt. Eine genauere Lektüre kommt dagegen zu einem anderen Ergebnis. In der genannten Resolution hat der Sicherheitsrat zwar eine Bedrohung des Weltfriedens konstatiert, nicht aber einen bewaffneten Angriff, der allein Auslöser des Rechts auf militärische Selbstverteidigung sein könnte. Hinsichtlich des Rechts zur Selbstverteidigung hat das Gremium nur abstrakt anerkannt, dass Artikel 51 der UN-Charta dieses Recht vorsehe – nicht aber, dass die Voraussetzungen etwa in Bezug auf Afghanistan eingetreten seien.

Kein Vergleich zu Kuwait

Ebenso verhält es sich mit der neuen Resolution vom 28. September. Sie stellt ebenfalls die Bedrohung des Friedens, nicht einen bewaffneten Angriff fest. Die Bedeutung dieses Textes liegt gerade darin, dass er die nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen effektiviert und von kriegerischen Maßnahmen absieht. Man halte ihm die Resolution von 1990 zur irakischen Invasion in Kuwait gegenüber: Damals stellte der Sicherheitsrat einen bewaffneten Angriff fest und bestätigte das Recht Kuwaits zur Selbstverteidigung.

Nun ist der Selbstverteidigungsfall allerdings nicht von einer Feststellung durch den Sicherheitsrat abhängig. Er ergibt sich aus der objektiven Lage. Man muss also nach einer allgemeingültigen Bedeutung des Ausdrucks „bewaffneter Angriff“ fragen. Der Internationale Gerichtshof legten ihn im Nicaragua-Fall 1986 ausgedehnt aus. Damals erklärten die Richter, Ausrüstung und Ausbildung der von Honduras aus operierenden Contras durch die USA stellten einen bewaffneten Angriff dar. Diese ausdehnende Auslegung war aber keineswegs konturenlos: Die bloße logistische und finanzielle Unterstützung bewaffneter Gruppen, so die Richter, stelle noch keinen Angriff dar.

Damit die Anschläge in den USA als afghanischer Angriff angesehen werden könnten, müssten die Terrorpiloten demnach von Afghanistan ausgerüstet, ausgebildet und entsandt worden sein. Selbst wenn die Attacken nachweisbar von Bin Laden gesteuert und finanziert worden sind, wäre noch zu beweisen, dass die Regierung aktiv und nicht nur durch Duldung mitgewirkt hat. Offenbar fällt dieser Nachweis schwer. Deshalb wäre eine kriegerische Reaktion gegenüber Afghanistan mangels Selbstverteidigungsrechts von vornherein unzulässig.

Dies gilt auch für den Einsatz der Nato. Würden die USA um militärische Hilfe ersuchen, wäre diese nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages (siehe Kasten) nicht gestattet. Diese Bestimmung setzt voraus, dass ein bewaffneter Angriff eines Staates gegeben ist. Die Klärung dieser Frage hat die Nato am 13. September zu Recht zur Bedingung für den Bündnisfall gemacht. Allerdings suggeriert die unklare Formulierung, es komme auf einen Angriff „von außen“ an, dass auch staatlich nicht gesteuerte Terrorakte als ausreichend für die Nothilfe angesehen werden. Dies wäre nach dem Vertrag nicht zulässig. Es geht auch nicht an, dass die Nato die Feststellung des Bündnisfalls durch die USA einfach übernimmt. Sie muss den Bündnisfall selbst prüfen, eine Definitionsmacht eines Nato-Mitglieds gibt es nicht.

Dass kriegerische Maßnahmen nach gegenwärtigem Kenntnisstand völkerrechtlich unzulässig sind, bedeutet selbstverständlich nicht, dass gar nichts unternommen werden kann. Wenn ein Staat terroristische Tätigkeiten gegen einen anderen Staat duldet oder unterstützt, verstößt er gegen den 10. Grundsatz der „Friendly Relations Declaration“ der UN-Generalversammlung von 1970.

Der Verstoß löst einerseits die Pflicht zur Wiedergutmachung aus. Andererseits können gegen den pflichtwidrig handelnden Staat Repressalien unterhalb der Kriegsschwelle ergriffen werden, beispielsweise Boykottmaßnahmen.

„Kleine Gewalt“ erlaubt

Nur in zwei eng umgrenzten Fällen werden gezielte Einsätze der „kleinen Gewalt“ mit eher polizeilichem Charakter für zulässig gehalten. Der eine betrifft den Schutz eigener Staatsangehöriger. Ein Beispiel dafür ist der Einsatz einer israelischen Sondereinheit im Jahr 1976 im ugandischen Entebbe, wohin palästinensische Terroristen mit Duldung Ugandas eine El-Al-Maschine entführt hatten. Der andere Fall betrifft kleinere gewaltsame Übergriffe wie Grenzverletzungen, auf die mit begrenzten Maßnahmen geantwortet werden darf.

Der erste Fall liegt ersichtlich nicht vor – es sei denn, man fasst Maßnahmen zur Befreiung der in Kabul festgehaltenen Gefangenen ins Auge. Der zweite Fall ist sozusagen verfristet: Er trägt nicht langfristig angelegte Strategien mit Einsatz gewaltsamer Mittel zur Terrorismusbekämpfung.

Darüber hinausgehende Maßnahmen sind nach der gegenwärtigen Völkerrechtslage nicht auf der Ebene einzelner Staaten, sondern nur im größeren internationalen Verband möglich – auf der Grundlage eindeutiger Beschlüsse des Sicherheitsrats. Dieser hat in den beiden Resolutionen zu den Anschlägen vom 11. September bereits die Bedrohung des internationalen Friedens festgestellt. Im Anschluss daran kann er Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta ergreifen, die stufenförmig von Aufforderungen zur Verfolgung der Terroristen über friedliche Sanktionen bis zu militärischem Eingriffen reichen.

Die Entscheidungsbefugnis darüber hat allein der Sicherheitsrat, nicht ein einzelner Staat wie etwa die USA. Im vorliegenden Fall hat der Sicherheitsrat in zunehmend konkreter Form alle Staaten zur Terrorismusbekämpfung verpflichtet. Zu Afghanistan wurden bereits nach den Anschlägen auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam Resolutionen beschlossen. Erst Ende letzten Jahres verpflichtete der Sicherheitsrat die Taliban zur Schließung der Camps und zur Unterbindung des Drogenhandels. Er verhängte ein Embargo für militärische Hilfe und den Luftverkehr.

Wenn sich diese Sanktionen als unzulänglich erwiesen haben, könnte der Sicherheitsrat auf die nächste Stufe übergehen und polizeiliche oder auch militärische Interventionen beschließen. Dabei könnte er sich auch auf den Tatbestand der menschenrechtswidrigen Unterdrückung der afghanischen Bevölkerung stützen, der seinerseits eine Bedrohung des Friedens ist.

Antiterror-Organisation

Angesichts der Verzweigung und offenbaren Schlagkraft der terroristischen Netzwerke reichen die Instrumente der UN-Charta allerdings nicht mehr aus. Erforderlich sind der Abschluss internationaler Verträge und die Einrichtung einer internationalen Organisation zur Terrorismusbekämpfung. Sie muss sorgfältig definierte supranationale Kompetenzen erhalten und gleichzeitig in einen umfassenderen Ansatz zur Bearbeitung der tieferen Quellen des Terrorismus eingebunden sein.

Der Anschlag vom 11. September hat die Akzeptanz für souveränitätsbeschränkende supranationale Institutionen mit weltweiten Kompetenzen gesteigert. Langsam kommt auch eine tiefer gehende Besinnung auf die Ursachen des Terrorismus in Gang. Diese Bereitschaft sollte für friedliche Zwecke genutzt werden, nicht für Kriegsgerede und nicht für Krieg.