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Seemänner auf der Reise ins Nichts: 1954 in Griechenland erschienen, liegt Nikos Kavvadias’ Roman „Die Wache“ endlich auf Deutsch vor. Eine existenzialistische Fahrt ins Reich jenseits der Schande

von MANUEL GOGOS

Nikos Kavvadias hatte unter seinen zahlreichen Tätowierungen eine Meerjungfrau, die jede Nacht ins Meer sprang und ihn mit Poseidon betrog. Er hat sich immer gefragt, was die Seeleute antreibt, sich den Körper tätowieren zu lassen, und was die Landratten, Bücher zu schreiben. Kavvadias hat beides getan, ohne es sich erklären zu können. In seinem einzigen Roman „Die Wache“ (1954), der jetzt endlich auf Deutsch vorliegt, kommt man der Sache näher.

Auf die Gründung einer bürgerlichen Existenz legte dieser Grieche keinen gesteigerten Wert. Stattdessen zog er es vor, nach dem Gymnasium anzuheuern und mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1975 auf verschiedenen Frachtschiffen zur See zu fahren. Hier an Bord irgendwelcher Seelenfänger las er Baudelaire und Federico García Lorca, hier begann er zu schreiben.

Kavvadias wurde 1910 in der Mandschurei geboren. Einige Jahre später ging seine Familie zurück nach Griechenland. In Piräus erlebte er die Auswirkungen der „kleinasiatischen Katastrophe“ aus nächster Nähe. Zwei Millionen Griechen waren aus der Türkei vertrieben worden, die Flüchtlinge aus Konstantinopel und von der kleinasiatischen Küste siedelten sich in den Hafenvierteln der Großstädte an. Mit ihren Instrumenten, die sie aus Smyrna mitgebracht hatten, verliehen die Rembetes ihrer Frustration Ausdruck. Inmitten dieser Atmosphäre, zwischen Virtuosen der Busuki, Haschischrauchern, Zuhältern und Schmugglern schrieb Kavvadias seine ersten Gedichte, die heute in Griechenland – von dem ehemaligen griechischen Kultusminister Thanos Mikroutsikos vertont – volkstümlich sind.

Auch „Die Wache“ hat das Pathos des gemessen tragischen, des elegischen Lebensgefühls. In diesem „weeping song“ sind alle Figuren durch die bloße Tatsache ihrer Existenz bereits Leidtragende. Dieser Existenzialismus hat eine Kraft der lyrischen Suggestion, die Maria Petersen in ihrer Übersetzung glücklich ins Deutsche hinübergerettet hat.

Das Schiff „Pytheas“ ist im Chinesischen Meer unterwegs. In den unendlichen Stunden der Wache erzählen sich die Seeleute ihr Leben: „Ich habs nich mal meiner Mutter erzählt. Auch nich ’m Popen.“ Der Heizer, der Steuermann, der Funker, alle sind sie Einzelgänger. Die als verschlossen galten wie ein Grab, vertrauen sich mit einer plötzlich aufflackernden Zärtlichkeit einander an: „Geh noch nicht.“ Sie wechseln sich ab mit der Wache und dem Schlafen, mit dem Reden und dem Schweigen über das, was ihr Leben in der Levante ausmacht. In dieser oralen Tradition können die Anekdoten, die Gerüchte und Legenden reihum erzählt und wieder erzählt werden. Ihre Geschichten müssen nicht wahr sein, nur gut, zumindest gut erzählt: „Du hast sie schon mal besser erzählt, Panajis. Du bist alt geworden.“ Sie sprechen über die merkwürdige Berufung zum Seemann, über Versäumnisse und Jugendsünden, Desillusionierungen und heimliche Hoffnungen, über Gestapo, Haschisch und Syphilis, den „großen Orden“. Mit allen Wassern gewaschen, spinnen sie ihr Seemannsgarn wie die Erinnyen ihre Schicksalsfäden. Dabei sind es immer wieder die Frauen – Ehefrauen, Mütter, Huren –, die ihnen nicht aus dem Kopf gehen. Die erste Geliebte, um derentwillen sie sich noch Jahrzehnte später eine Ader aufschneiden könnten. Die Mütter, die sich sehnen, ihren Söhnen in der schwarzen Fremde endlich wieder die Wäsche zu waschen. Die Prostituierten aus Alexandria, Saloniki, Emin Aga (Kavala) und St. Pauli, die die Männer je nach Laune ausnehmen oder sich mit Korinthen bezahlen lassen, die manchmal mütterliche Gefühle kriegen und den Matrosen die Hemden flicken.

Die Männer haben vor nichts Angst, außer vor den Frauen. Ihre Mythologie der Ozeane ist eine Reise ins Nichts, Europa ist eine „alte Schlampe“, und des Seemanns einzige Braut ist die See.

Die Geschichten drehen sich um den Funker des Schiffes als zentrale Figur, ein Intellektueller der – als zurückhaltendes Selbstbildnis von Kavvadias – nach langer Abstinenz wieder das Trinken anfängt. Die Dialoge der Wachen werden zu inneren Monologen, die sich mit der Logik des Deliriums in immer finsteren Farben entfalten. Dabei sind die Faszination durch das Verbrechen in dieser nackten und rohen Welt und die Verflechtung des Schönen und Hässlichen kein ästhetisches Prinzip, sondern Ergebnis von Kavvadias’ Weltanschauung. In Opiumhöhlen und anderen Stätten des Lasters, unter Nachtwächtern und Hurenböcken, voll mit Drogen, Malaria und blinder Gewalt findet er wie der „heilige“ Genet ein Reich jenseits der Schande: „Nichts ist unmöglich auf dieser Welt. Weder das Unglaublichste noch das Schrecklichste.“

Nikos Kavvadias: „Die Wache“. Aus dem Griechischen von Maria Petersen. Alexander Fest Verlag, Berlin 2001, 295 Seiten, 39,90 DM