Freches Waisenkind der BBC

Bei al-Dschasira sitzen die arabischen Zuschauer in der ersten Reihe. Der Sender aus Katar gilt als unabhängig und professionell. Die USA steuern „sanft“ dagegen, doch Tony Blair schießt quer

von HENNER KIRCHNER

„Amerika will den Arabern den Mund verbieten!“, war der Tenor in den arabischen Internetforen, nachdem bekannt wurde, dass US-Außenminister Powell „sanften Druck“ auf das Golf-Scheichtum Katar ausübt, um die Berichterstattung des Satelliten-Senders al-Dschasira (Die Insel, engl. Al-Jazeera) zu beeinflussen.

Al-Dschasira? Nie gehört? Dabei ziert dessen Logo die einzig verfügbaren aktuellen Aufnahmen aus den Taliban-kontrollierten Gebieten Afghanistans sowie die von allen westlichen Sendern verbreiteten Bin-Laden-Videos.

Al-Dschasira wird oft als CNN der Araber bezeichnet. Damit wird Bezug genommen auf die professionelle Arbeit der Redakteure, wie auch auf das breite Korrespondenten-Netzwerk, über das al-Dschasira an allen Brennpunkten verfügt. Dabei ist der Kanal eher ein Waisenkind der BBC aus einer im Streit auseinander gegangenen britisch-saudischen Medienehe. Der Herrscher des Golf-Scheichtums Katar kaufte 1996 Anteile und Redakteure und gewährte eine üppige Anlauffinanzierung und – viel bedeutender – untersagte jede Einmischung in die redaktionelle Gestaltung. Das Ergebnis war ein profitables Wirtschaftsunternehmen sowie ein Sender mit hervorragendem journalistischem Ruf und – nach Schätzungen – rund 35 Millionen Zuschauern. Der angenehme Nebeneffekt für den Ministaat Katar: Er hat einen Einfluss in der Region gewonnen, der weit über seine ökonomische oder gar militärische Stärke hinausgeht.

Der journalistische Erfolg von al-Dschasira liegt auch in dem von Konfrontation geprägten Stil. Die Fragesteller aus Katar sind in der gesamten arabischen Welt gefürchtet – und doch kommt niemand an ihnen vorbei, der ein breiteres Publikum erreichen will. Die zahmen Stichwortgeber deutscher Sender könnten hier die hohe Schule der Politikerbefragung erlernen: Die normalerweise von ihren staatlichen Sendern umschmeichelten arabischen Politiker sahen sich mit nicht abgesprochenen Fragen, ungefilterten Zuschaueranrufen und oppositionellen Gesprächspartnern konfrontiert.

Erfolglose Beschwerden

Eine solche Redaktionspolitik macht beliebt bei Zuschauern, die sich an Politikern erfreuen, die sich unter gnadenlosen Fragen winden – aber es macht unbeliebt bei den Potentaten. Nahezu jeder arabische Staatschef ist bereits in Katar vorstellig geworden, um sich – erfolglos – zu beschweren. Powell kann sich somit in die lange Reihe der Gegner der arabischen Pressefreiheit einreihen – von Saddam Hussein über Mubarak zu Arafat. Letzterer ließ Büros des Senders schließen, weil dieser auch über israelische Positionen berichtet. So fragte al-Dschasira nach dem Beginn der Intifada beim damiligen israelischen Regierungschef Ehud Barak um ein Interview nach. Doch dieser kniff, statt die Gelegenheit zu nutzen, unzensiert zur arabischen Öffentlichkeit zu sprechen.

Al-Dschasira wurde so auch zu einem Liebling westlicher Beobachter der arabischen Medienlandschaft. Mit dem Unterton „Seht, jetzt haben es die Araber gelernt“ wurde über die Insel der Pressefreiheit berichtet. Nach den US-Angriffen auf den Irak im Dezember 1998 konnte al-Dschasira als einziger Sender Bilder liefern, den Durchbruch auf der Weltbühne verschaffte aber die Al-Aksa-Intifada: al-Dschasira berichtete von den Ereignissen in den Palästinensergebieten in nahezu jedes arabische Wohnzimmer. Ein schlafendes Bewusstsein – „Wir alle sind Araber“ – wurde von den Bildern toter Palästinenser und von hartnäckigen Interviews zu neuem Leben erweckt. Diese nüchterne Berichterstattung wird auch auf der Gegenseite geschätzt: In den Büros israelischer Stabsoffiziere ist das Programm aus Katar immer präsent.

Der aktuelle Konflikt hat den Kanal endgültig in die Weltliga der Satellitensender katapultiert. Nur al-Dschasira darf noch mit offiziellen Korrespondenten aus den von den Taliban kontrollierten Gebieten berichten, während die Kollegen von CNN und BBC ausgesperrt bleiben. So bringen die grün-weißen Bilder der Bombardierung Kabuls für al-Dschasira im selben Maß den Durchbruch, wie die Bilder aus Bagdad vor zehn Jahren den Aufstieg von CNN begründeten.

Sprachrohr Bin Ladens?

Dass die arabischen Journalisten jetzt für ihre Berichterstattung zum Sprachrohr Bin Ladens und der Taliban gestempelt werden, ist mehr als nur Rufmord neidischer westlicher Kollegen. Dahinter steckt zum einen der amerikanische Versuch, die Berichterstattung – wie bereits im Krieg gegen den Irak – zu monopolisieren. Zum anderen wird – fälschlicherweise – eine Mobilisierung der arabischen Öffentlichkeit für Bin Laden befürchtet. Auch Jo Groebel, Direktor des Europäischen Medieninstituts in Düsseldorf, appellierte gestern an die Medien, Bin Ladens Äußerungen wegen ihrer „immensen Verstärkungskraft“ nur bearbeitet zu verwenden. Eine solche Überlegung verkennt, dass das Konzept der Pressefreiheit davon ausgeht, dass sich die Zuschauer selber eine Meinung bilden. Dies soll aber anscheinend ein westliches Privileg bleiben.

Eine unabhängige Berichterstattung für Araber in arabischer Sprache scheint im Westen Unbehagen zu wecken. Dies wird unter arabischen Journalisten durchaus zur Kenntnis genommen – und zwar mit Wohlwollen. Erste Kommentatoren fordern bereits englischsprachige Sendungen von al-Dschasira. Nicht, um in Zukunft fehlerhafte Übersetzungen wie beim aktuellen Bin-Laden-Interview zu verhindern, sondern um „den Arabern eine Stimme zu geben, die in der Welt verstanden wird“.

Der englische Premier Blair jedenfalls will in der arabischen Welt gehört werden und weicht in dieser Frage von der US-Position ab. Er gab dem gescholtenen Sender ein Interview, das gestern gesendet wurde.

Und auch der Herrscher von Katar, Scheich Bin-Khalifa, will die unabhängige Stimme Arabiens erhalten. Dies versicherte er nach einem Treffen mit dem US-Außenminister – natürlich in einem Interview mit al-Dschasira.