Ein Kanzler nimmt Abschied

Gerhard Schröder erklärt die Zeit der außenpolitischen Unschuld für beendet. In der neuen Ära soll der Einsatz deutscher Soldaten selbstverständlich sein

von JENS KÖNIG

Man kann nicht erkennen, ob Gerhard Schröder in den vergangenen 48 Stunden ein anderer Mensch geworden ist. Er sieht aus wie immer in den letzten Wochen. Konzentriert, angestrengt, ernst. Er trägt seinen grauen Kanzler-Anzug mit einem hellblauen Hemd und einem dunkelblauen Schlips. Seine Augen liegen tief hinter seinen finsteren Brauen. Sein Kinn hat er nach vorn geschoben, wie so oft, wenn er grimmig guckt. Mit energischen Schritten stürmt er in den Plenarsaal des Bundestages.

Als er sich sich auf seinen Stuhl setzt, öffnet er mit einer Hand sein Jackett. Er beugt sich nach rechts und begrüßt Joschka Fischer, seinen Außenminister und Freund. Fischer sagt etwas zu ihm, und plötzlich muss Schröder lachen. Seine harten Gesichtszüge entspannen sich für einen Moment. Nur die Furchen über seiner Nasenwurzel graben sich immer noch tief in sein Gesicht.

Doppelter Boden

Vielleicht ist Gerhard Schröder heute doch kein anderer Mensch als gestern oder vorgestern. Wie will man das auch feststellen bei einem Politiker, dessen Persönlichkeit nie fertig scheint. Der immer der ist, zu dem ihn die jeweilige Situation gerade macht. Der die Identität von eigener Person und medialer Rolle perfekt verkörpert. Schröder inszeniert sich ja nicht nur – er ist gleichzeitig auch derjenige, als der er sich inszeniert. Schröder ist ein Schauspieler seiner selbst, aber er ist immer auch Schröder. Auf diesem doppelten Boden bewegt er sich, seit er vor ein paar Jahren in Dieter Wedels „Der große Bellheim“ den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder spielte.

Dieser doppelte Boden trug Schröder plötzlich nicht mehr, als er 30 Stunden vor seiner Regierungserklärung, die er hier im Bundestag gleich abgeben wird, die Apokalypse mit eigenen Augen sah. Der Kanzler stand in New York vor den Trümmern des zerbombten World Trade Centers und hatte Tränen in den Augen. „Es gibt keinen anderen Ort auf der Welt“, sagte Schröder hinterher, „wo man so sehr fühlen kann, was jetzt sein muss.“

Wirklich erschüttert

Dieser kurze Augenblick an dem „Ort des Grauens“, wie er ihn selbst nannte, hat den Kanzler wirklich erschüttert. In diesem Moment war Schröder ganz er selbst, da vergaß er seine mediale Rolle. Das hat ihn vielleicht wirklich nicht gleich zu einem anderen Menschen werden lassen, aber in diesem Augenblick vollendete sich eine Metamorphose, die mit dem Kosovo-Krieg begann. Aus dem Bundeskanzler wurde endgültig der Staatsmann Gerhard Schröder. Und Schröder selbst spürte das.

Heute, hier im Bundestag, möchte er den Abgeordneten, aber vor allem den Bürgern sagen, was das bedeutet, welche Rolle die Bundesrepublik in der internationalen Politik künftig spielen soll, was die Welt von Deutschland in dieser Hinsicht erwartet. Er tut das nicht etwa mit einer emotionalen Rede, wie das einige nach Schröders Besuch in New York erwartet haben. Er spricht genauso, wie er es in allen Reden seit dem 11. September getan hat: ernsthaft, nüchtern, ohne jedes Pathos.

Hölle von New York

Dabei weiß Schröder, dass es ihm leichter fallen würde, die Bürger von seinem Kurs zu überzeugen, wenn alle die Gelegenheit gehabt hätten, mit ihm zusammen die Hölle in New York zu betreten. Er spricht dennoch nur ein einziges Mal in der Regierungserklärung von seinen eigenen Gefühlen. „Die Erschütterung, die jeden denkenden und fühlenden Menschen im Anblick dieses Ground Zero erfasst, ist mit Worten kaum zu beschreiben“, sagt Schröder. Um das zu erklären, weicht er einen kurzen Moment von seinem Redemanuskript ab. „Die Fernsehbilder gehen gnädig mit dem Zuschauer um“, sagt er, „sie schaffen Distanz.“

Was Schröder als einen Moment von Gnade beschreibt, ist für ihn selbst eigentlich eine bittere, aber dennoch gerechte Lektion: Bilder sind nicht allmächtig, selbst wenn sie wahr sind. Was wir wissen, wissen wir doch nicht alles aus dem Fernsehen.

Der Staatsmann Gerhard Schröder jedoch hat keine Muße, jetzt auch noch an Niklas Luhmann zu denken. Er hat Großes im Sinn. Er verkündet das Ende einer Ära. „Noch vor zehn Jahren hätte niemand von uns erwartet, dass Deutschland sich anders als durch so etwas wie ‚sekundäre Hilfsleistungen‘ an internationalen Bemühungen zur Sicherung von Freiheit, Gerechtigkeit und Stabilität beteiligt“, sagt der Kanzler. „Diese Etappe deutscher Nachkriegspolitik ist unwiederbringlich vorbei.“

Kohls regloser Blick

Dreißig Meter von Schröder entfernt, schräg rechts in einer der hinteren Reihen, sitzt Helmut Kohl, die Verkörperung dieser Etappe deutscher Nachkriegspolitik. Kohl guckt reglos zu seinem Nachfolger, als dieser von einem zu Ende gehenden Abschnitt spricht. Die Blicke der beiden treffen sich nicht ein einziges Mal während der ganzen Rede. Dabei wäre das neue Deutschland des Gerhard Schröder, das seine außenpolitischen Interessen jetzt selbstbewusst definiert, ohne Kohls Politik der Zurückhaltung nicht denkbar.

Schröder spricht ganz selbstverständlich vom „neuen Selbstverständnis“ deutscher Außenpolitik. „Internationale Verantwortung zu übernehmen und dabei jedes unmittelbare Risiko zu vermeiden, kann und darf nicht Leitlinie deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sein“, sagt der Kanzler. „Wir Deutschen stehen in vorderster Reihe bei der konsequenten Sicherung des Friedens in der Welt“, so Schröder weiter, „aber auch bei der ebenso konsequenten Herstellung und Sicherung von Stabilität, die auf Menschenrechten und Menschenwürde basiert.“ Der Kanzler sagt „ganz unmissverständlich“, was das heißt: Die neue Verantwortung der Deutschen bedeute auch die Beteiligung deutscher Soldaten an militärischen Operationen zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten.

Ausgerechnet Gerhard Schröder führt die Bundesrepublik international in eine neue Ära, in der es zur Selbstverständlichkeit gehören wird, dass deutsche Soldaten deutsche, europäische und internationale Interessen durchsetzen helfen. Ausgerechnet Schröder, der Chef einer rot-grünen Koalition, will Deutschland dahin führen, dass es mit den USA auf gleicher Augenhöhe umgehen kann. Ausgerechnet Schröder, der Zivilist, der nie in der Bundeswehr gedient hat und in dessen Regierung gleich reihenweise Kriegsdienstverweigerer sitzen. Ausgerechnet Schröder, der Sozialdemokrat, der 1991 während des Golfkriegs noch froh war, Außenpolitik mit dem Scheckbuch betreiben zu können.

Kein Hurra-Patriotismus

Ausgerechnet dieser Gerhard Schröder will Deutschland jeden Rückzug in eine Zeit versperren, in der das Land sich die Unannehmlichkeiten noch vom Hals halten konnte. Und er tut es sanft, mit Rücksicht auf die Sorgen in der Bevölkerung und die Verfasstheit dieser Republik. Schröder spricht in seiner Regierungserklärung mit Anerkennung vom zivilen Charakter seines Landes. Er sagt, dass er diese Zivilisiertheit für einen Fortschritt halte, selbst wenn sie ihm manchmal die eigene Argumentation schwer mache. Und dann folgt ein Bekenntnis, das man von Schröder auch in den ersten Tagen nach dem Tertroranschlag gern gehört hätte: „Zurückhaltung ist mir allemal lieber als jede Form von Hurra-Patriotismus.“

Der Kanzler nimmt bei dieser Reise in die neue Zeit nicht einmal auf sich selbst Rücksicht. Er räumt freimütig ein, dass er früher anders gedacht hat. Er spricht davon, dass noch vor zehn Jahren niemand von Deutschland diese neue Rolle in der Weltpolitik erwartet hätte, und fügt hinzu: „Ich sage das durchaus auch auf mein eigenes Denken und Handeln bezogen.“

Hier spricht ein Kanzler, der seit seinem Amtsantritt viel und schnell lernen musste. Zu den einschneidendsten Erfahrungen gehörte der Kosovo-Krieg. Schröders Frau hat später einmal dem Spiegel erklärt, dass ihren Mann jedesmal Panik befiel, wenn in der Nacht bei ihnen zu Hause ein Fax ankam.

Gerhard Schröder hatte Angst davor, Eltern vielleicht erklären zu müssen, dass ihr Sohn gefallen sei. Schließlich hatte er als Kanzler sie in den Kosovo geschickt. Doris Schröder-Köpf sagte damals: „Das war ein Bruch in seinem Leben.“

Ohne Illusionen

Jetzt bereitet Gerhard Schröder die Deutschen wieder auf eine schwierige Mission vor. Er macht ihnen keine Illusionen über den Ernst der Lage, aber er beruhigt sie. Vielleicht kann das ein ziviler Kanzler besonders gut.

Ob er Angst vor einer unberechenbare Weltkrise habe, wurde Schröder vor drei Wochen gefragt. „Ich habe keine Angst“, antwortete er. Das war mit Sicherheit gelogen.