Der das Foul pfeift

Mit beeindruckender Kohärenz hat er das Thema einer vernunftgeleiteten Verständigung im Medium der Öffentlichkeit bearbeitet: Jürgen Habermas erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Habermas ist nicht nur Schiedsrichter, sondern auch Stratege im Meinungskampf

von CHRISTIAN SEMLER

Wen meinen wir eigentlich, wenn wir Autoren in der taz „Wir“ sagen? Lassen wir den seltenen Fall beiseite, wo das „Ich“ sich zum „Wir“ aufspreizt. Nehmen wir ein näher liegendes Beispiel: „Wir neigen oft dazu, unsere politischen Hoffnungen mit der Realität zu verwechseln.“ Das ist Essay-Stil und meint einmal ein höfliches Ins-Plural-Setzen des Vorwurfs: „Du Naivling X, ich nenne deinen Namen nicht, jeder kennt ihn sowieso, glaubst du immer noch daran, unsere versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zu bringen?“ Aber hinter dem rhetorischen Wir lauert stets auch ein zweites. Dann meint „Wir“ einmal unser Lesepublikum, darüber hinaus aber auch alle, die ärgerlicherweise nicht zu unserer Zeitung greifen; sich aber trotzdem als Publikum zu einer Öffentlichkeit rechnen, die sich über unsere Verhältnisse und die Chancen ihrer Verbeserung verständigen möchte. „Wie geht es uns denn heute“, nervt uns die Krankenschwester und lässt in dieser abgedrochenen Floskel doch einen Funken von Verständnis und Mit-Leid aufscheinen. Dito der Journalist.

Die Kunst des Zeitungsschreibens lehrt uns zwar, bei der Verwendung von Personalpronomina Vorsicht walten zu lassen (niemals „Ich“). Aber es ist dennoch klar, dass der Journalist mit den Lebendigen reden möchte so wie der Historiker mit den Toten. Der Philosoph will sogar mit beiden reden. Dies zum Zweck der Selbst- und Weltaufklärung. Aber Vorsicht: Sorgfältig abgesteckte Begriffe und ziselierte Argumentationen erleiden allzu oft einen Schrumpfungsprozess, wenn sie aus dem Reich des philosophischen Streits in die Verwurstungsmaschinerie der Medienöffentlichkeit und von dort in den privaten Hausgebrauch geraten. Das „Prinzip Hoffnung“ ist mittlerweile zum bloßen Slogan heruntergekommen, den jeder Status-quo-Politiker in den Mund nimmt. Ernst Bloch dagegen wird als toter Hund traktiert.

Wie steht es in dieser Hinsicht mit dem Philosophen Jürgen Habermas, der heute mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geschmückt wird? Er pflügt seit Jahrzehnten den steinigen Acker, auf dem auch das Gewächs taz Wurzeln geschlagen hat und „Wir“ sagen konnte. Er hat, angefangen mit „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ über die „Theorie des kommunikativen Handelns“ bis zu seinen jüngsten rechtsphilosophischen und sprachtheoretischen Schriften, mit beeindruckender Kohärenz das Thema einer vernunftgeleiteten Verständigung im Medium der Öffentlichkeit bearbeitet. Zwischen dieser Theoriebewegung und den politischen Interventionen, die der Sozialphilosoph über die Jahrzehnte hinweg unternahm, besteht ein innerer Zusammenhang, wenngleich kein direkter. Denn noch und gerade in den Idealisierungen einer gelungenen Kommunikation sind deren politische Voraussetzungen präsent, wie umgekehrt die publizistischen Vorstöße von Habermas von der Notwendigkeit/Möglichkeit verständigungsorientierenden Handelns grundiert sind.

Deshalb drängt sich bei einem Philosophen, der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen so nah ist, die Frage auf, welchen Widerhall eigentlich sein Denken und seine Interventionen gefunden haben. Nicht in einem unmittelbar praktischen Sinn, als Politikberater Joschka Fischers beispielsweise (der er, freiwillig oder nicht, auch ist). Sondern in welcher Weise seine Theorien und sein Eingreifen das Selbstverständnis der Akteure beeinflusst haben bis hinein in die Begriffe der Alltagssprache.

Dieser Einfluss ist überraschend groß und lässt sich dem seines offenen Antipoden Niklas Luhmann wie seiner versteckten Antipodin Hannah Arendt vergleichen. Wir können das an drei Ideenkomplexen ablesen, die von Habermas nicht originär entwickelt, aber in ihrer gegenwärtigen politischen Verwendung geprägt wurden: erstens dem Gegensatzpaar System/Lebenswelt, zweitens der Idee eines durch Verständigungsregeln bestimmten Diskurses und drittens/wichtigstens eine Vorstellung der Aufklärung, die an Vernunft und an einer durchgängig kritischen Haltung festhält.

Unter Lebenswelt versteht Habermas ein Reich der Verständigung, wo Kultur sich entwickelt, wo Solidarität für die soziale Integration sorgt und wo sich das Individuum heranbildet. Diesen Bereich gilt es gegenüber den Übergriffen der Systeme Macht und Geld, die mit je eigener Logik Staat und Wirtschaft regieren, zu verteidigen. Die Lebenswelt ist kein personeller, sondern ein Ideenzusammenhang, der sich nicht frontal, sondern gewissermaßen nur von rückwärts erschließen lässt. Er ist es, der sich der geschlossenen Welt der Subsysteme entzieht. Natürlich konnte es nicht ausbleiben, dass soziale Bewegungen vom Anti-AKW-Kampf über die Friedensbewegung bis zu den Globalisierungskritikern rufen: Hier! Sie verwechselten Lebenswelt mit der Welt des Lebendigen, einem Konstrukt mit ihrer, der Bewegungen, Realität. Aber das ist selbstverständlich ein fruchtbares Missverständnis. Es korrigiert, besser ergänzt die Sprache vernunftgeleiteter Verständigung durch die Sprache sinnlicher Welterschließung, die Habermas der Poesie vorbehält. Und so kommt Liebe ins Spiel, Mitgefühl, der Wärmestrom, von dem Ernst Bloch einst sprach. Aber auch die Lust an der Bildzerstörung, am Experiment mit ungewissem Ausgang. Alles vermischt, aber doch immer wieder zentriert um Verständigungsprozesse.

Der Begriff des Diskurses hat heute, bis in Familienauseinandersetzungen hinein, den des Streits überlagert, wobei eindeutig nicht die herrschaftsverbürgende Funktion des Diskurses gemeint ist, sondern die herrschaftsverflüssigende, der sanfte Zwang der Rechtfertigung und des besseren Arguments, die Spielregel aus dem Geist der Fairness. Ob sich solche Regeln als diskursive Ethik bereits aus den Strukturen der Sprache ableiten lassen, hat die Öffentlichkeit weniger beschäftigt als die nützlichen Funktionen, die aus Habermas’ Theorie für die politischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik folgten. Habermas, der Schiedsrichter, pfeift beim Foul. Die linksradikalen Studenten mauerten vor dem eigenen Tor, sei’s im subkulturellen Ghetto, sei’s in den Ruinen des Dogmatismus. Sie achteten den Fortschritt gering, der dem Kapitalismus in Form von sozialem Rechtsstaat und Verfassung abgerungen wurde. Sie kokettieren mit der Gewalt, aber Gewalt macht stumm. Habermas hat zu Recht gepfiffen, wenngleich er einige unschöne Behauptungen folgen ließ. Auch in der Friedensbewegung pfiff Habermas erneut, diesmal zur Klärung des Komplexes „civil disobedience“. Er ist es, der zusammen mit seinen rechtsgelehrten Freunden einer rechtsverletzenden, aber moralisch legitimen Aktion ihre Berechtigung wie ihre Grenzen aufweist. Das hat sich bis zum Streit über Genua ausgezahlt.

Schließlich ist es Habermas zu danken, dass über zwei vernunftfeindliche Jahrzehnte hinweg der Anspruch der Aufklärung hochgehalten wurde und damit auch der Möglichkeit, sich überhaupt politisch zu engagieren. Letztlich hat sich in der Öffentlichkeit nicht festsetzen können, dass es eigentlich nur die Subsysteme sind, die aufeinander agieren und der Begriff „Gesellschaft“ obsolet ist. Oder dass das Äußerste, was wir erreichen können, eine Art Selbstregierung ist, die wir der ehernen Ordnung der Dinge abtrotzen. Hartnäckig hält die gesellschaftliche „Laiensphäre“ daran fest, dass sie sich über die Expertenkulturen hinweg verständigen kann.

Freilich hat Habermas solche Ziele als „Grenzkrieg“ zwischen Lebenswelt und den Subsystemen Macht/Geld beschrieben. Das passt beispielsweise auf die Erfolge der Ökologie – und zeitweise auch der Friedensbewegung, die Wirtschaft und Staat zu etwas veränderten Sichtweisen bewegten. Freilich sieht Habermas für gesellschaftliche Reformen, die „von außen“ tief in Recht und Wirtschaft eingreifen, nur „systemkonforme“ Aktionsmöglichkeiten, nur Maßnahmen, die deren „Eigensinn“ entsprechen. Während er in der Lebenswelt Ressourcen für die Regeneration des politischen Systems ausmacht, vermag er nicht zu sagen, mittels welcher kohärenter Reformen dem erstarrten Parteienstaat zu neuen Lebensgeistern verholfen werden soll. Trotz einer emphatischen Verteidigung von Rechtsstaat und Verfassung schreckt er vor den innovativen Energien zurück, die für Hannah Arendts „Begründung der Freiheit“ charakteristisch sind.

Dass der gesamte Problemkreis sich mittlerweile auf die europäische Ebene verschoben hat, macht die Sache keineswegs leichter. Immerhin hat Habermas die entscheidende Frage „Können Kollektive eine vernünftige Identität ausbilden“ jetzt auf europäischer Ebene neu verhandelt. Damit hat er auch für eine angstbesessene Öffentlichkeit eine nach vorne gerichtete, progressive Form für den dumpf-nationalistischen Identitätsbegriff abgewonnen, die die EU zur Weltgesellschaft hin öffnet. Was er allerdings mit Blick auf die Entwicklung ebender Weltgesellschaft zur Bombardierung Jugoslawiens 1999 zu sagen hatte, war – mit Verlaub – für das Publikum eine dünne Suppe. Denn die grundlegenden Differenzen zwischen dem Politik- und Verfassungsverständnis der Vereinigten Staaten und Europa waren dem intimen Kenner der amerikanischen politischen Kultur natürlich bekannt und hätten thematisiert werden müssen.

Habermas ist aber nicht nur Schiedsrichter, sondern auch Stratege im Meinungskampf. Virtuos erkennt er den richtigen Zeitpunkt für seine politischen Interventionen, ordnet die Fronten, zieht Hilfstruppen heran, kümmert sich um die publizistische Logistik. Die Abwehr neokonservativer Versuche, die deutsche NS-Vergangenheit zu entsorgen und nach der Vereinigung umstandslos an die Traditionen des untergegangen deutschen Nationalstaats anzuknüpfen, wäre ohne Habermas schwerlich erfolgreich zu führen gewesen. Wie St. Thomas im Mittelalter macht er Autoren wie Theoriezusammenhänge anderer Kulturkreise, in seinem Fall vorzüglich der angelsächsischen Welt, dem Unternehmen „Kommunikatives Handeln“ dienstbar. Und seiner Kritik fehlt jedes Moment der Verdachtspsychologie und der vorschnellen Schubladen-Kategorisierung. Meistens jedenfalls.

Auf den Zusammenbruch des realsozialistischen Systems und auf die deutsche Vereinigung hat er uns allerdings wenig vorbereitet und die Revolutionen im Osten hat er stets nur unter dem Signum des „Nachholens“ der westlichen politischen Kultur gesehen, in ihnen nichts Neues entdeckt. Jähe Wendungen, historische Sprünge passen nicht zu einem evolutionären Denken, das Krisen stets nur aus dem Blickwinkel der Gefährdung eines erreichten emanzipatorischen Niveaus sieht. Aber auch hierin drückt er Denken und Gefühle einer ernüchterten und enttäuschten Öffentlichkeit aus – zumindest auf Seiten der Linken.