Musikant für diesen Tag

Berlins U-Bahn gehört den Philharmonikern – aus Russland. Eine Recherche

von MAJA NOWAK

Gespannt laufe ich durch den Mäusetunnel von Stadtmitte auf die Musik zu. Heute sind es französische Lieder, die ein Russe spielt. In geheimnisvoller Reihenfolge wechseln täglich die Gesichter der Straßenmusikanten. Nur ihre russische Nationalität bleibt gleich. Die deutschen, brav Noten übenden Musikstudenten sind aus dem Berliner Stadtbild verschwunden. Der U-Bahnhof Stadtmitte scheint in russischer Hand. Ich wittere dunkle Machenschaften und halte nach Männern in langen Ledermänteln und mit Zopf Ausschau. Natürlich drängelt sich nur Berliner Fußvolk und jede Menge Touristen durch den Tunnel. Dennoch lässt mir das Ganze keine Ruhe.

Am nächsten Tag rufe ich die Pressesprecherin der BVG an, um zu erfahren, inwieweit die Berliner Verkehrsbetriebe an den U-Bahn-Konzerten beteiligt sind. „Sie können unser Merkblatt gefaxt bekommen, ein Interview ist nicht möglich“, bellt die Kollegin der BVG in den Hörer. Dem Merkblatt entnehme ich die überraschende Methode, mit der die Musikerstellplätze vergeben werden: Eine Lotterie findet statt! Jeden Mittwochmorgen, U-Bahnhof Kleistpark, an einem eigens vorhandenen Musikgenehmigungsschalter der BVG. Toll, so etwas muss ich mir ansehen.

„Wenn Sie beabsichtigen, sich das Losverfahren selbst anzuschauen, müssen Sie hier aber vorher unbedingt noch einmal Bescheid sagen!“, schnauzt mich die BVG-Frau beim zweiten Anruf an. Also kein Interview, keine spontane Ortsbesichtigung – die kontaktscheue BVG-Pressesprecherin hat es geschafft. Ihre hochrangige Geheimhaltungsstufe wird mir endgültig verdächtig.

Zu Hause hole ich meine älteste Gitarre vom Überboden. Auch einen farbenfrohen Moskauer Anorak entdecke ich am selben Ort und einen zerbeulten Zimmermannshut. Mein Repertoire gibt zwanzig Lieder her, die ich mir bei meinem Russlandaufenthalt aneignen konnte. So machte ich mich auf, das Geheimnis der Russenpräsenz zu ergründen und gehe zwei Tage später verkleidet als Musikantin zur BVG-Lotterie.

Mittwoch sechs Uhr. Es ist kalt und zugig vor dem noch geschlossenen Schalter am U-Bahnhof Kleistpark. Nach vierzig Minuten taucht der erste russische Kollege mit einem schallenden „Dobroje Utro!“ (Guten Morgen!) auf. Bald darauf hat sich die Gemeinschaft aus Straßenmusikern vollständig versammelt. Ich bin die einzige Deutsche. Jeder kennt jeden. Es herrscht große Geschäftigkeit, die nichts mit Geschäften zu tun hat.

Adressen werden ausgetauscht, Tipps gegeben, Leute mit einer Unterkunft versorgt. Man wohnt oft zu viert in einem Zimmer, und wo vier leben, findet auch ein Fünfter Platz, heißt die Devise. Neun Frauenstimmen zwitschern über fünfzehn Männerorganen.

Ich werde nach russischer Art kontaktiert: „Grüß dich, bist du Marina?“ Ein dünner Riese steht vor mir und drei Eisenzähne blinken in seinem Lachen. „Nein, ich heiße Maja.“ „Ach so, eine Marina sollte nämlich heute ankommen, und da wollte ich lieber fragen und mich kümmern. Ich heiße übrigens Alexander.“ Ich denke: Ein netter Empfang für jene Marina, von der er offensichtlich nur gehört hat. Diese Fähigkeit zum Zusammenhalt habe ich in Russland immer wieder erlebt. Sie ist das offene Geheimnis russischer Lebenskunst in schlechten Zeiten.

Um sieben Uhr öffnet der Schalter. Ein bärtiger BVG-Mitarbeiter sitzt dahinter und eine aschblond gelockte Kollegin kommt nach vorn, um das verklemmte Schalterrollo hochzuwummern. „Na, mein Guter! Hallo Ira!“, begrüßt sie ein paar Umstehende aufgeräumt. Hinter der Scheibe entdecke ich eine Eierpalette, in der etwa fünfundzwanzig Überraschungseier ohne Schokohülle wie gelbe Soldaten stehen. Wir werden in der Reihenfolge unserer Ankunft registriert und erhalten dafür eine Nummer auf Papier.

Ich bekomme die Eins und es stimmt mich stolz, dass ich in einer Warteschlange diesen vordersten Platz belege. Eine halbe Stunde später jedoch stellt sich heraus, dass meine Nummer überhaupt keinen Einfluss auf die Lotterie hat. Sie bedeutet nur, das ich als Erste ein Los ziehen darf, welches wiederum die Reihenfolge bestimmt, in der sich ein Musiker in die Stellplatzlisten eintragen darf. Bei Losnummer sieben sind nach Aussage der Wartenden die besten Plätze vergriffen. Stadtmitte, Friedrichstraße, Alexanderplatz. Stationen, an denen es von Touristen wimmelt und das Geschäft floriert.

Die Überraschungseier landen in einem Leinensäckchen, und ich darf als Erste hineingreifen. Es ist wie Kindergeburtstag. Aufgeregt ziehe ich die zwei Hälften meines Eies auseinander. Ganz langsam entrolle ich das Papier: Mein Los trägt die Nummer neunzehn. „Kaschmar“, seufzt Alexander zwei Köpfe über mir, was im Deutschen einem Fäkalwort gleichkommt. Er zieht die Nummer vierzehn.

Wir haben also beide viel Zeit, bis die vor uns Kommenden ihre Auswahl getroffen haben. Ich erfahre von Alexander, der noch nie einen Lotterietreffer hatte, dass auch die anderen Standorte nicht wirklich schlecht sind. „Weißt du, dort ist man es nicht so häufig gewöhnt, dass ein Musikant dasteht, und da geben die Leute gerade deswegen manchmal.“ Mich rührt sein Optimismus, obwohl er heute wieder Pech hatte.

„Majotschka, singst du?“, fragt er kurz darauf. Als ich bejahe, beugt er sich begeistert nach vorn: „Ich suche nämlich eine Duettpartnerin. Wie ist es, kommst du mit raus, da ist ein schöner Park?“ Ich bin irritiert. „Warum?“ Er nimmt sein Akkordeon und sagt: „Na, wir müssen doch üben!“

Der Park ist ein leicht angegammelter Platz mit sehr spärlichem Baum- und Buschwuchs. Auf jeden Fall hat er Bänke, und wir setzen uns. Plastisch führt mir Alexander seinen Beruf als Gesangslehrer am Konservatorium in Petersburg vor. „Aaaahhh“ imitiert er einen Opernsänger und lässt Ton und Luft tief aus dem Bauch kommen. Dazu stemmt er die Arme in die Luft. „Na, klingt das nicht unnatürlich!“, ruft er begeistert. „So falsch singen fast alle Sänger. Dabei sagt man ja auch nicht Ja ljublju tebja“ (Ich liebe dich) – stakkatoartig stößt er jedes einzelne Wort laut geknödelt hervor.

Eine Passantin bleibt stehen und mustert uns. „Nein, man muss singen, wie man spricht“, ereifert sich Alexander weiter gegen einen mir unbekannten Gesinnungsgegner seinen Lebens, „ganz leicht: Ja ljublju tebja.“ Seinen leisen Ton begleitet er mit einer graziösen Handbewegung, die einem Max Raabe würdig wäre, wenn dieser sich je bewegt hätte.

Dann beginnt er in seinem Stoffbeutel zu wühlen und kramt eine dicke Pappe hervor, die aufgeklappt einen Meter Durchmesser umfasst. Sie ist beklebt mit Fotos: Mädchen mit riesigen Zopfschleifen, Jungen mit halblangen Hosen und aufgeschlagenen Knien und Alexander immer in ihrer Mitte. „Das sind meine Schüler. Sie trällern jetzt wie die Nachtigallen.“

Gerührt und stolz fährt sein Finger über die Bilder. Endlich packt er das Akkordeon aus, und ich bin inzwischen sehr neugierig auf seinen Gesang. Rumsda-Rumsda, ein schmissiger Rhythmus kracht aus dem Instrument. „Katja, Katja milaja Katjuscha“ steigt Alexanders Stimme ein. Ich zucke zurück. Keine Nachtigall erklingt, auch keine Taube oder Amsel. Alexanders Stimme stolpert krächzend durch die Töne und verendet mit steter Regelmäßigkeit in unerwarteten Höhen. Tapfer versuche ich, der Situation mit ernstem Blick zu begegnen. Die Zeit erlöst mich, wir müssen zurück zum Schalter.

Alle haben in Ruhe ihre Stellplätze ausgewählt und gekauft. 12,50 Mark kostet der Tag und die Bescheinigung mit Namen und Passnummer. Alles ist penibel amtlich und korrekt. Die BVG muss sich also um einen mafiösen Zusammenhang nicht sorgen, sondern nur um den mit ihrer Pressesprecherin S. Immerhin komme ich durch diese ganze Sache auf die Idee, für einen Tag selbst als Straßenmusikantin zu arbeiten und aus dieser Perspektive zu schreiben. Auch Interviews mit den russischen Musikern plane ich.

Eine Woche später ist es so weit. Ich sitze auf einem Höckerchen im U-Bahnhof und stimme meine Gitarre. Mit „Oi da ne wetscher“ (Es ist noch nicht Abend), einer russischen Volksweise, beginne ich. Die Akkustik ist hervorragend. Bereits in der zweiten Strophe nähert sich eine junge Frau, blickt schüchtern zu mir, geht fast vorbei, kommt zurück und lässt eine Mark auf meine Gitarrenhülle fallen. Irre, denke ich, das klappt ja wirklich. Nach dem ersten Lied liegen neun Mark vor mir und drei Minuten sind vergangen. Ich denke über einen Berufswechsel nach.

Gerade zwei Stunden später jedoch bin ich froh, nur für diesen Tag hier zu sein. Halbstündige Flauten wechseln sich ab mit kurzen Hoffnungsschimmern. Es ist anstrengend, so lange laut zu singen. Die Emphase schwindet, und die ersten Erfahrungswerte haben Folgen. Ich beginne eine Lautstärkenwellenform zu entwickeln. Kommen Leute, setze ich an Lautstärke zu. Ist niemand zu sehen, lasse ich nach, um die Stimme zu schonen.

Später treffe ich noch einen Unterschied. Haben Passanten interessiert oder freundlich reagiert, halte ich die Lautstärke, bis sie verschwunden sind. Reagieren sie genervt, bekommen sie im Weggehen keine Musik als Begleitung, ich verstumme. Das wiederum empört viele so sehr, dass sie stehen bleiben und mich wütend anstarren. Einem jungen Türken rutscht die Börse aus der Hand und sein gesamtes Kleingeld fällt auf meine Einnahmen. Verlegen versucht er, seine Münzen wieder herauszufischen.

Natürlich sieht das für Außenstehende aus, als ob er mich beklaut. Hochrot im Gesicht gibt er nach kurzem zu meinen Gunsten auf. Etwas später fällt eine Weintraube auf meine Gitarrenhülle. Ich blicke hoch und in das Gesicht desselben jungen Mannes, der erneut rot wird. Er nickt lächelnd und hastet nach unten auf das U-Bahn-Gleis. Ich sehe ihn dort fünf Züge verpassen, bevor er davonfährt.

Plötzlich ein leises Geräusch. Tok, tok, tok. Es ist der Stock einer alten Frau, die sich nähert. Sie bleibt vor mir stehen und schreit: „Jut machste det, meene Kleene.“ Eine Stunde später kommt sie mit Erna. Fein gemacht, biegen die beiden Alten mit einem Eis in der Hand um die Ecke: „Guck Erna, da is das Konzert“, weist die mir bekannte Oma mit dem Finger auf mich. Beide stellen sich an die Wand mir gegenüber, schlecken ihr Eis und hören zu. Ich drehe voll auf und biete ein russisches Scherzlied an.

Die beiden Frauen kichern über meine begleitenden Grimassen. „Nu geben se doch was, die Kleene singt doch so schön“, ergreift Erna meine Partei, als ein Mann vorübergeht. Erstaunt blickt der sich um und hastet weiter. „Kommste morgen wieder, meine Kleene. Unsere Beene machen jetzt nich mehr mit“, verabschieden sich beide zu meinem Bedauern nach zwanzig Minuten. Ich bin wieder allein mit dem hastenden Laufpublikum.

Auffällig ist, dass zu neunzig Prozent junge Leute etwas geben oder die wenigen ganz Alten. Mit dem Blickkontakt ist es dasselbe. Junge Leute schauen mir offen in die Augen und viele lächeln. Die meisten Passanten im mittleren Alter zwischen dreißig und fünfundfünfzig Jahren kommen um die Ecke, taxieren mich einen winzigen Moment, blicken dann demonstrativ weg und starten durch, als hätten sie irgendwo den Termin ihres Lebens.

Nachdem die Gefahrenzone der potenziellen Geldabnahme durchquert ist, blicken sich ungefähr siebzig Prozent noch einmal um und werden langsamer. Obwohl mein Konzert doch ganz freiwillig ist und die Geldgabe sowieso, scheinen viele in einen Gewissenskonflikt zu kommen. Dass sich ein Musikant auch einfach nur über nette Zuhörer freuen kann, ist offenbar unbekannt.

Nur sechs Jugendliche aus der Schweiz wagen sich ganz nah heran und bilden vor mir einen sitzenden Halbkreis. Sie haben unbeirrbar gute Laune und bereits irgend einen Wirkstoff in sich, der diesen Zustand hervorrief. Begeistert trommelt ein Mädchen auf den Boden. Ihr Rhythmus klopft zwar nur knapp an dem meinen vorbei, wirkt aber dennoch sehr eigen. Ich wähle als nächsten Titel etwas Langsames. Sie lässt sich nicht beirren und findet auch dafür einen schnellen Groove. Weil sich die anderen anschließen, wird es schwierig. Wir klingen zusammen recht durcheinander und laut. „Yeeah!“, schreit einer der Jungen begeistert und zeigt mir das Finger-V. Ich entschließe mich, auf den Rhythmus der jungen Hobbygroover umzusteigen, um das Chaos zu dezimieren, bis die Gruppe weiterzieht.

Nach fünf Stunden muss ich dringend auf die Toilette, habe Hunger, mein Hals ist trocken und ich bin geschafft. Ich mag nicht mehr lächeln, nicht mehr angeschaut werden und nicht mehr auf ständig wechselnde Situationen achten. Ich möchte mich zurückziehen in die schützende Masse oder allein sein.

Meine geliehene Identität ist schnell verstaut. Das Höckerchen in die große Tasche, Anorak und Hut ebenso und ich steige in die U-Bahn nach Hause. Am Alexanderplatz dringt Geigenmusik in den haltenden Waggon, und ich sehe einen russischen Straßenmusiker. Freundlich winke ich ihm durch die Scheibe zu, und er schaut verwundert in mein Gesicht.

MAJA NOWAK, 39, lebt als freischaffende Musikerin und Autorin in Berlin