Der unsagbare Kern

Von der Allegorisierung bis zur Analogie mit Hollywoods Katastrophenszenarien – nach den Anschlägen von New York kamen die Deutungen und Entlastungsgeschichten. Von der nicht vereinnehmbaren Gegenwart des Todes schirmen sie uns genauso ab wie Schuldzuweisungen und Vergeltung

Man sollte versuchen,bei diesem Einbruchdes realen Todeszu verweilen

von ELISABETH BRONFEN

Die ganze Malerei, aber auch die Literatur und alles, was damit zusammenhängt, ist ja immer nur ein Herumgehen um etwas Unsagbares, um ein schwarzes Loch, oder um einen Krater, dessen Zentrum man nicht betreten kann.

(Anselm Kiefer)

Als ich am 11 September in Washington, D. C., vor einem Schaufenster stand und die Menschen beobachtete, die auf den dort ausgestellten Fernsehbildschirm blickten, erklärte mir eine Afroamerikanerin, sie habe sich bei den ersten Fernsehübertragungen gesagt, das sei ja wie „Independence Day“. Daraufhin sei sie aber über sich selbst erschrocken, denn dies sei for real. Über die mediale Wirksamkeit des Terroranschlages ist in den letzten Wochen viel geschrieben worden, sie ist genauso wenig zu übersehen wie deren Zitatcharakter. Diese Terroristen – so war man sich bald einig – hatten unsere Alltagsmythen studiert, um uns die eigenen Zerstörungsfantasien vor Augen zu führen.

Schnell griff man zu ikonografisch gesicherten Allegorisierung, die im World Trade Center entweder einen Doppelphallus sehen wollten oder einen die moderne Metropole symbolisierenden weiblichem Körper, der von phallischen Flugzeugen penetriert wurde. Andere nutzten die Analogie, um historische Ereignisse wie Pearl Harbor, mit besonderer Vorliebe aber Hollywoods Katastrophenfilme als Deutungsmuster zu bemühen. Sehr bald erinnerte man sich daran, wie oft uns in den letzten Jahren brennende Türme oder der Einsturz von Wolkenkratzern auf der Kinoleinwand als genussvolle Inszenierung begegnet waren. Doch der Zusatz des for real sollte uns diesen Hang zu Entlastungsgeschichten auch kritisch prüfen lassen.

Albträume – das hat uns die Psychoanalyse gelehrt – sind durchaus notwendig, aber gerade als Fantasieszenarien: Eine apotropäische Geste, die wir brauchen, um Ängste zu bannen. Wir denken die Zerstörung, damit sie nicht passiert. Katastrophenfilme unterliegen zudem immer festgelegten Regeln. Wir genießen diese Inszenierungen, weil andere an unserer Stelle sterben und sie zudem keine realen Konsequenzen mit sich bringen. Und wir genießen die Filmkatastrophe als Katharsis. Es gibt eine klare Aufteilung in Helden und Schurken, die Helden retten die Bedrohten, und eine Ordnung wird wieder hergestellt. Die vom Hollywood-Kino in Umlauf gesetzte Lust an Zerstörungsfantasien ist also grundsätzlich eine Geschichte des Überlebens.

Das Desaster des WTC-Anschlags stellt hingegen kein realisiertes Alptraumszenario dar, sondern ein Ereignis, in dem materielle Zerstörung als rohe Tatsache der Erfahrung jegliche Bilder einholte, und eine Gegenwärtigkeit in unser Blickfeld rückte, die zuerst nichts bedeutet außer das Ereignis eines massiven gewaltsamen Todes. Im Gegensatz zu Reality-TV ging es eben nicht um eine ästhetisierte Katastrophe mit Unterhaltungswert. Diese Bilder hatten eine Sogkraft, die von den Fernsehanstalten, die unablässig den Angriff auf und den Einsturz des WTC aus allen Perspektiven ausstrahlten, noch unterstützt wurde. Es waren vertraute Bilder und gleichzeitig unheimliche, weil sie zwar an unbewusste Zerstörungswünsche appellierten, aber eben real waren. Das nicht auszublendende Reale stellte eine Verwundung unserer Sehgewohnheiten dar, eine mediale Entsprechung der tiefen leiblichen Verletzung, die an diesem Ort stattgefunden hatte.

David Denby hat im New Yorker die Abweichung zu Hollywood-Katastrophenfilmen darin festgemacht, dass den Bildern des WTC das nicht vereinnahmbare Partikulare des Todes eingeschrieben ist: Die winkenden Tücher an den Fenstern der obersten Stockwerke, die man sehen konnte, bevor die Fernsehkameras wieder in die Totale umschalteten, die Umrisse derer, die freiwillig in den Tod sprangen. Wir konnten nicht erkennen, wer diese Menschen sind, und gerade weil wir somit auch keine Schutzdichtungen für sie entwerfen konnten, verletzen sie unsere herkömmlichen Sehgewohnheiten. Diese Details zwangen uns immer wieder an den unsagbaren Kern dieses Ereignisses zurückzukehren, dass nämlich das brennende WTC – und später dessen Trümmer – zuerst einmal kein Symbol sind, auch wenn es als solches für den Terroranschlag ausgesucht worden war: sondern ein zerstörtes Hochhaus und somit ein offenes Grab tausender unbestatteter Menschen, deren Asche sehr schnell New York City bedeckt hat – von ihren Einwohnern und Besuchern eingeatmet und somit aufgenommen.

Es handelt sich zuerst einmal also nicht um ein realisiertes Fantasma, sondern um eine tiefe Traumatisierung, die mit den brennenden Flugzeugen einsetzte und jetzt, da an der Stelle des WTC nur noch eine beleuchtete Leerstelle existiert, uns an ein nicht metaphorisch verstandenes ground zero erinnert, von dem sich alle nachträglichen Erklärungen dieser Katastrophe nähren, wie es sich diesen auch entzieht.

HollywoodsZerstörungsfantasienhandeln stets vomÜberleben

Vielleicht lässt sich dieses Ereignis am besten als Erfahrung des Unheimlichen begreifen, das uns zum reinen Dasein ohne Bedeutung aufweckt; das einfach besagt, hier hat eine traumatische Zerstörung stattgefunden. Dass wir uns Entlastungsgeschichten erzählen müssen, um bei dem Schock des Massentodes nicht zu verweilen, ist ebenfalls ein Gemeinplatz der Psychoanalyse. Die Störung unseres herkömmlichen Blickes auf Katastrophen, das for real, muss in vertraute Denkbilder und Erklärungsmuster eingebettet werden, in Schutzdichtungen – der teilnehmenden Trauer, der Vergeltung oder der Schuldzuweisung –, die die reine Diesheit des Ereignisses wieder abschirmt. Wobei die Bombardierungen von Afghanistan durchaus auch in diesem Zusammenhang zu sehen sind.

Doch man könnte die Attacke auf das World Trade Center auch als wake-up call verstehen: als verheißungsvolle Mahnung daran, bei diesem Einbruch des realen Todes in unsere medial verbreiteten Fiktionalisierungen von Katastrophen auch zu verweilen, den Bruch nicht einfach wieder durch Entlastungsgeschichten abzudichten. Man sollte sich nicht nur erinnern, das dieses Sterben real war, will man verhindern, dass diese Aufnahmen, die von nun an der Fluchtpunkt sein werden für eine breite Palette an Denkbildern, zum ästhetischen Genuss mutieren. Man sollte auch nicht vergessen, dass es sich um eine Verletzung handelt, die uns ebenfalls lange heimsuchen wird, auch wenn wir nicht persönlich betroffen sind.

Susan Sontag hat darauf hingewiesen, „der Reiz der verallgemeinerten Fantasiebilder der Katastrophe“ bestehe darin, „dass sie uns von den normalen Verpflichtungen befreien“. Die Bilder, die nach dem Terroranschlag auf das WTC entstanden sind, zwingen uns hingegen, sie gerade nicht als verallgemeinerte Fantasiebilder zu sehen, und appellieren deshalb durchaus an unsere Verantwortung. Zwar besagen die Gesetze der Repräsentation, dass alle Visualisierungen von Katastrophen notwendigerweise in sich imaginäre, greifbare und virtuelle Bilder verschränken, die auf jene Gegenwart des Todes Bezug nehmen. Eine Gegenwart, die alle fluktuierenden Wiedergaben auch transzendiert. Ein unvermitteltes Bild des Todes gibt es jedoch nicht, nur sublimierende Gesten des Erklärens, die versuchen, diese Verletzung zu glätten. Doch was es durchaus gibt, ist die Möglichkeit, bei der Antinomie zwischen der Traumatisierung, die der Tod bedeutet, und den erklärenden Schutzdichtungen, mit denen wir auf diese Verletzung antworten, zu verweilen.

Auf dieser Offenbarung eines unerträglichen und gleichzeitig faszinierenden Wissens, dem wir nicht ausweichen können, zu beharren, bedeutet, dass es nach dem 11. September kaum um ein Verbot von Bildern, die den unvorstellbaren Tod darstellen, gehen kann, sondern darum, eine Brüchigkeit in die Betrachtung dieser Visualisierungen einzuführen: Eine Mahnung davor, aus Gewohnheit an die vielen Denkbilder der Entlastung, die unser Bildrepertoire an Analogien und Allegorien uns bietet, die reine Gegenwart des gewaltsamen Geschehens nicht aus den Augen zu verlieren.