Afghanische Mysterien

Michael Griffins aufschlussreiches Buch über die paradoxen Verbindungen zwischen USA und Taliban

Seit dem grauenvollen Terroranschlag in den USA wollen wir mehr wissen über das Regime der Taliban. Ein Regime, dass nicht nur Ussama Bin Laden und seine Terrororganisation al-Qaida berherbergt, sondern berühmte Buddhastatuen zerstört hat und Frauen auf bizarre Weise diskrimiert.

Wenig ist bekannt über die Ursprünge, die Herrschaftsstrukturen, die Ideologie oder das religiöse und politische „Ethos“ dieser Variante des islamischen Fundamentalismus. Dem Informationsmangel hilft nun, zumindest teilweise, das auf Englisch erschiene Buch des britischen Investigativjournalisten Michael Griffin ab, der die Zeit des Aufstiegs der Taliban vom Oktober 1994 bis zur Verhängung der UN-Sanktionen vom Dezember 2000 umfasst.

Ausführlich befasst sich Griffin mit der Gynäkophobie der „Gotteskrieger“, denn die Taliban stigmatisieren Frauen als das Übel schlechthin und fürchten, dass diese mit ihren „Sünden“ die Gesellschaft weiter infizieren. Deshalb sperren sie Frauen weg, schlagen sie und zwingen sie, sich total zu verhüllen. Diese sexuelle Phobie gehe teilweise auf die Verhaltensregeln der Volksgruppe der Paschtunen zurück, nach denen sich Mädchen mit Beginn des siebten Lebensjahres auf einen gefährlichen Weg in die Pubertät begeben und deshalb von Jungen und Männern abgesondert würden. Nach diesen Stammesregeln sind auch Steinigung und Begraben bei lebendigem Leib „normale Strafen“ für Ehebruch, der als Gefahr für die ganze Gemeinschaft betrachtet wird.

Insgesamt entwirft Griffin nicht nur ein umfassendes Profil der Talibanbewegung, er beschreibt zudem die seltsame Natur der internationalen Verbindungen der Taliban zu Saudi-Arabien, Pakistan, den USA oder ihre Zusammenarbeit mit amerikanischen und argentinischen Ölgesellschaften, die wirtschaftliche Interessen in Afghanistan verfolgen.

Der Autor will in seinem Buch zwei zentrale „Mysterien“ über die Taliban lüften: Die Unterstützung der Regierung Clinton für die beiden kalten Kriegspartner Pakistan und Saudi-Arabien, mit denen man die Taliban finanzierte, um die Missherrschaft der Mudschaheddin nach der Vertreibung der sowjetischen Truppen zu beenden – und das noch wichtigere Thema: die „Inkompetenz von FBI, CIA und anderen amerikanischen Geheimdiensten in der Behandlung der Frage, welche Gefahr Ussama Bin Laden und sein Netzwerk darstellt“. Die Beziehungen Präsident Bushs zur amerikanischen Ölindustrie, insbesondere UNOCAL „sind, bedauerlicherweise, eher hinderlich für die augenblickliche Aufklärung der Rolle der US-Politik in Afghanistan in den späten 90er-Jahren, als dass sie sie fördern“, so Griffin.

Der Autor zeigt, dass die USA immer nur halbherzig gegen die Taliban und Ussama Bin Laden in der Vergangenheit vorgegangen sind. Nach den Anschlägen 1998 auf ihre Botschaften in Kenia und Saudi-Arabien erfolgten drei Angriffe auf Lager von Bin Laden in Afghanistan sowie auf eine pharmazeutische Fabrik im Sudan. Griffin glaubt, dass Clinton mit diesen unkoordinierten Aktionen, von der Lewinsky-Affäre ablenken wollte. Auch nachdem UNOCALs Gas-Ambitionen in der Stadt Khost in Flammen aufgingen, verlangten die USA im Austausch gegen die Anerkennung des Taliban-Regimes nur die Auslieferung Ussama Bin Ladens. „Sie waren geradezu besessen mit Bin Laden und kümmerten sich nicht um die anderen arabischen und nicht afghanischen Terroristen, die wie Ameisen nach dem Anschlag in Khost herumliefen.“ Mehr unternahmen die USA offenbar nicht, um Tote bei einer Kidnapping-Aktion oder einem Angriff zu vermeiden. Zudem wäre es, so Griffin damals höchst brisant gewesen, wenn die „verdeckten amerikanischen Pläne bei der Machtergreifung der Taliban“ offen gelegt worden wären.

Den bombastisch angekündigten „Krieg gegen den Terror“ lässt Griffins Buch in einem äußerst fahlen Licht erscheinen, weil sich dieser „Krieg“ nicht nur gegen die Taliban und Bin Laden richten müsste: Schließlich haben auch die „Freunde“ der USA – Pakistan, Saudi-Arabien oder sogar Indien – jahrelang den Fundamentalismus mit zahlreichen Dollarmillionen aufgepäppelt. Die Taliban und ihre Islamvariante existierten nicht ohne die finanzielle Unterstützung der Saudis und der Führung in Pakistan. Massive geopolitische Interessen spielen demnach eine weitaus größere Rolle in diesem Land als die Ausschaltung der „Infrastruktur des Terrors“.

Sollte es eine deutsche Übersetzung dieses sehr aufschlussreichen Buches geben, könnten die Taliban schon zu einer historische Episode im Kampf um Macht und Einfluss in Afghanistan verkümmert sein. Ob es dem politischen Islam genauso gehen wird, kann bezweifelt werden. Der Autor gibt zu bedenken, dass die Afghanen in den letzten 30 Jahren zu leiden gelernt hätten und ihnen für weiteres Leiden Gottes schnelle Erlösung versprochen sei. LUDWIG WATZAL

Michael Griffin: „Reaping the Whirlwind. The Taliban Movement in Afghanistan“. Pluto Press, London, 283 Seiten, £ 19,99