Heilige Nachrichten

Nicht alle afghanischen Medien liegen brach: Eine Tageszeitung verbreitet Taliban-Rhetorik

von ROLAND HOFWILER

Der Eindruck trügt, im Land der Taliban sei die Kommunikation komplett zerstört. Noch immer erscheinen Zeitungen und verbreitet „Radio Scharia“ täglich seine Propagandasendungen für „den wahren Islam“. Zumindest im Westen Afghanistans scheint der Alltag, ungeachtet des US-Luftkrieges, weiterzugehen wie bisher. Dies behaupten jedenfalls die Radiomacher von „Scharia“ in der nordwestlichen Taliban-Hochburg Masar-i Scharif, und das suggeriert das Taliban-Blatt Etefaq-i Islam aus Herat.

Entgegen anderslautender Mitteilungen aus dem US-Pentagon senden die Taliban nach wie vor über „Scharia“ ein religös-politisches Vollprogramm. Die traditionellen Frequenzen (657 und 1107 kHz auf Mittelwelle, 7085 auf Kurzwelle) für die Hauptstadt Kabul sind tatsächlich verstummt, doch Lokalstationen scheinen weiterhin das Programm zu übernehmen. Berichte von Funkamateueren sind allerdings widersprüchlich, wo genau die Signale abgefangen wurden. Zweifelsohne liegt derzeit in Masar-i Scharif das zentrale Sendestudio der Taliban. Ob in den Landesstudios etwa von Herat, Fariab, Logar oder Nimroz auch eigene Sendungen produziert werden, ist unbekannt. Und über die möglichen neuen Frequenzen gibt es noch keine näheren Angaben.

Kämpferisch gibt sich die Zeitung Etefaq-i Islam, die im westafghanischen Herat gedruckt und vertrieben wird. Bis vor kurzem war das Blatt eine regionale Wochenzeitung, im Schatten der Kabuler Taliban-Presse. Doch zumindest in den vergangenen Tagen erfüllte Etefaq-i Islam die Funktion einer Tageszeitung. Am Dienstag berichtete das Blatt unter anderem von religösen Veranstaltungen aus den Kleinstädten Hadith und Hajj, wo einige dutzend Koran-Schüler ihre Ausbildung zum Islam-Gelehrten erfolgreich abgelegt hätten. Etefaq-i Islam zitiert dann aus der Rede des Gouverneurs der Provinz Herat, Mola Khayrollah Khayrkhaha, der vor den versammelten Gästen in markigen Worten die „kriegerische Arroganz der westlichen Politiker und Zionisten“ brandmarkte. Der Gouverneur erklärte sich ausdrücklich nicht bereit, Ussama Bin Laden das Gastrecht Afghanistans zu entziehen. Die Forderung der Amerikaner, den saudischen Milliardär auszuliefern, sei eh nur ein vorgeschobener Grund. Briten und Russen hätten in der Geschichte mehrmals versucht Afghanistan zu unterjochen, „zu einer Zeit, da gab es gar keinen Bin Laden“.

Daraus schließt der Taliban-Politiker Khayrkhaha, auch diesmal gehe es dem Westen nur darum, „die islamische Religion und Kultur als Ganzes zu vernichten“.

Am Montag hatte Etefaq-i Islam auf der Titelseite eine noch schärfere Verbalattacke gegen den Westen geführt. Ein namenloser Autor machte sich zuerst lustig über die Aufregung über das „Ereignis vom 11. September“, um dann die Warnung auszusprechen: „Unser Volk wartet ungeduldig auf den Tag, um Rache nehmen zu können für den Tod hunderter unserer Märtyrer, die aufgrund der Angriffe der Vereinigten Staaten und Großbritanniens umkommen. Unser Volk wartet auf den Tag, wenn Volkes Hand die Kehlen der Führer der Vereinigten Staaten und Großbritanniens durchschneiden wird.“

Nach der Kriegslogik des Pentagon, alle terroristischen Zentren in Afghanistan auszulöschen, gäbe es allen Grund, die Sendestudios von „Scharia“ anzugreifen und die Druckerei von Etefaq-i Islam zu zerstören. Warum die Amerikaner davor noch zurückschrecken, darüber kann nur spekuliert werden. Vielleicht wollen die US-Militärs nach einem möglichen Umsturz des Taliban-Regimes diese Einrichtungen selbst verwenden. Möglicherwiese kam man in Washington auch zu dem Schluss, die Mitteilungen über Radio „Scharia“ werden in Afghanistan eh nicht mehr gehört und die Verbalattacken von Etefaq-i Islam nicht mehr ernst genommen. Hatten die Taliban mit ihrer Propaganda je Rückhalt bei der Bevölkerung? Möglicherweise nie, vielleicht jedoch jetzt, durch die US-Bedrohung.