Geschmacksdiktat

Die Weine aus dem Bordelais werden sich immer ähnlicher. Verantwortlich dafür sind nicht zuletzt populäre Weinjournalisten wie Robert Parker. Sie bestimmen über Geschmack und Preis

von BERND KREIS

Der Jahrgang 2000 wird qualitativ nicht als großer Wurf in die Geschichte von Bordeaux eingehen, wohl aber als teuerster Kauf aller Zeiten. Die berühmten Gewächse von Mouton-Rothschild und Haut-Brion, um nur zwei der renommiertesten Châteaux zu nennen, bewegten sich schon immer in exklusiven Preisregionen. Jetzt sind sie sogar für Besserverdiener kaum noch erschwinglich. Die erlauchten Güter bringen ihre Weine für rund 500 Mark pro Flasche unters Volk.

Einige Mini-Produzenten mit aufgemotzten Modegewächsen verteilen ihre Erzeugnisse zu noch höheren Preisen an einen ausgewählten Kundenkreis. Im Sog der ganz großen Namen haben natürlich auch die Weingüter aus der zweiten und dritten Reihe kräftig nachgelegt. Alles in allem scheint der Genuss von Bordeauxweinen für den Großteil der Weingenießer schlichtweg nicht mehr finanzierbar. Jedoch wird zu oft ignoriert, dass die vielen kleinen Gewächse des Bordelais seit Jahren rückläufige Kurse verzeichnen. Im Schlagschatten der großen Namen stehend, mussten sie schon immer hart um Anerkennung ringen.

Seit dem Jahrgang 1990 schraubt sich eine beispiellose Preisspirale unaufhörlich in immer neue Rekordhöhen. Ursprünglich wurde diese Entwicklung durch die hohe Nachfrage unter Bordeauxfreunden in Gang gesetzt, dann verursachten Spekulanten eine regelrechte Preisexplosion. Große Weine, sofern sie einschlägig als solche bekannt sind, werden den Anbietern aus den Händen gerissen und sind schnell teure Raritäten. Findige Anleger kaufen berühmte Weine ein, warten deren Wertsteigerungen ab, um sie – meist bei Auktionen – wieder zu veräußern. Wenn alles gut geht, streichen sie satte Gewinne ein. Mittlerweile existieren sogar Wein-Investmentfonds.

Seit Jahren dümpeln enorme Mengen berühmter Weine unangetastet in professionellen Weinlagerhäusern. Das Geschäft mit dem flüssigen Gold ist weltweit bestens organisiert. Die Weine wechseln bisweilen so häufig ihre Besitzer, dass es sich wegen der hohen Umschlaggeschwindigkeiten nicht einmal lohnt, sie umzulagern. Der Handel findet fast nur noch auf dem Papier statt.

Schließlich wird überhaupt nur ein kleiner Teil der Edelschoppen getrunken. Dies ärgert auch Jacques Thienpont, Besitzer des weltberühmten Weingutes Le Pin in Pomerol. Sein Wein gehört zu den seltensten und teuersten Gewächsen der Welt. Doch Thienpont versteht den Rummel um Le Pin nicht. Wenn es nach ihm ginge, wäre sein Wein viel billiger. Aber wenn er die Kurse nicht anhebt, tut es der Zwischenhandel. „Die meisten Leute interessiert die Qualität von Le Pin nicht. Sie kaufen Le Pin nur wegen des Namens“, ärgert sich Thienpont. „Ein großer Teil meines Weines wird nie getrunken werden.“

Weil es nicht mehr um den Genuss geht, sondern nur um Wertschöpfung, kauft kaum noch jemand seine Bordeauxweine nach eigenen Verkostungen, eventuell vorhandenem Fachverstand oder wenigstens den eigenen Vorlieben folgend. Der Weinjournalismus spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, er hat die heutige Situation mit herbeigeführt. Die Kurszettel der berühmten Weinkritiker, angeführt vom amerikanischen Juristen Robert Parker, sind heute für den Einkauf von feinen Weinen, insbesondere Bordeauxweinen, ausschlaggebend. Bestürzend ist dabei, dass sich sogar ein großer Teil der so genannten Fachleute kommentarlos dem Geschmacksdiktat der Vorschmecker beugt.

Könnte es in diesem Zusammenhang möglich sein, dass die Journalisten größtes Interesse daran besitzen, immer wieder sensationelle Benotungen in die Welt hinauszujubeln, selbst wenn es keinen Grund zum Frohlocken gäbe? Positive Meldungen wecken die Begehren der Käufer und lockern den Sitz der Geldbörsen. Wer kann es sich leisten, den Star der Szene nicht zu trinken, was wäre ein gut sortierter Keller ohne den Wein des Jahres?

Genau betrachtet sind die erfolgreichsten Weine immer nach demselben Strickmuster gewirkt: Mundfüllend, mild und überfruchtig. Das ist nichts anderes als gefällige, austauschbare Konfektionsware. Weil diese Weine einem geschulten und kritischen Gaumen nicht standhalten können, sind die Verkaufserfolge von den euphorischen Berichterstattungen abhängig. Kritische Stimmen werden vom Weinmob gnadenlos niedergemacht.

In jedem Frühjahr zieht die journalistische Polonaise wie ein Bandwurm durch die Gedärme der Châteaux. Wenn Robert Parker, René Gabriel und Kollegen die Bleistifte spitzen, müssen die Jungweine blitzblank und vorzeigbar sein, obwohl sie in aller Regel frühestens 18 Monate nach der Ernte abgefüllt werden. Wenn Parkers Hundert-Punkte-Skala über 90 ausschlägt, ist der Jahrgang ein Erfolg, ab 95 ist der Ausverkauf der Ernte innert weniger Tage garantiert. Alles was unter 89 rangiert, versinkt dagegen in Vergessenheit. Wenige Vorschmecker geben den Ton an und das Heer der Weintrinker stimmt fröhlich lallend in den Narrhallamarsch ein. Die führenden Köpfe der Weingüter haben diese Entwicklung dämmern sehen und sich rechtzeitig mit dem notwendigen Hightech-Zubehör wie Vakuumverdampfer und Umkehrosmosemaschinen ausgerüstet. Denn nicht selten werden schwächlich geratene Weinchen erheblich aufgepäppelt. Den Mut zu Jahrgangsunterschieden gibt es in den elitären Weinkreisen schon lange nicht mehr. Akzeptiert werden nur noch dicke Brummer. Eleganz und Finesse, einst Markenzeichen großer Bordeauxweine, sind heute überkommene Werte. Große Weine werden heute im Keller gemacht, meinen viele und produzieren deshalb statt anmutiger Delikatessen nur noch süße Trinkmarmelade. Die McDonaldisierung des Weingeschmacks.

Angesichts der monströsen Schwerkaliber, die dem klassischen Ideal des eleganten Bordeaux diametral entgegenstehen, muss man sich fragen, ob sich die populären Journalisten jemals die Zeit genommen haben, eine Flasche Wein genüsslich auszutrinken. Dies ist mit den modernen Fruchtbombern höchstens unter Aufbietung der letzten Willenskräfte möglich. Der Sättigungsgrad ist hier schon nach wenigen Schlucken erreicht, doch die Schönschreiber empfinden dies als Sinnlichkeit und feiern ihrer Ekstase mit Vokabeln wie „schmalzige Süße am Gaumen“.

Allerdings gibt es noch einige Winzer, die offen gegen den Technowahnsinn opponieren. Einer von ihnen ist François des Ligneris. Der Schlossherr aus Saint-Emilion stemmt sich gegen das System, wo immer es geht. Zum Beispiel weigert er sich standhaft, seinen Wein während der frühen Verkostungen zur Schau zu stellen. Seine Spitzenprodukte brauchen Zeit zur Entfaltung, meint er. Keine Verkostung, keine Punkte, kein Rummel. Sein Château Soutard ist ein knorriges Gewächs von standhaftem Charakter. Meistens ist er ein großer Wein, der noch immer zu vernünftigem Preis angeboten wird. Im „L’Envers du Décor“, dem Weinbistro des hintersinnigen Kunst- und Musikfreundes, welches zur Anlaufstelle von Weinfreunden aus aller Welt geworden ist, kann man aber auch erschmecken, dass es durchaus ein wenig Licht im Dunkel der Bordelaiser Weinvielfalt gibt. Denn auch hier gilt der Grundsatz, den wir alle aus dem Physikunterricht kennen: Kraft erzeugt Gegenkraft. Je mehr Betriebe ihre Erzeugung auf das Fabrizieren von Einheitsweinen verlegen, desto mehr Individualisten treten andererseits auf den Plan. Nur besitzen diese Leute leider keine Lobby bei den Verbrauchern, denn ihre Weine sind nicht immer mit den gängigen Normen zu erfassen. Meist überfordern sie die sensorischen Fähigkeiten der populistischen Weinschreiber und erscheinen deshalb kaum in der Öffentlichkeit.

BERND KREIS, bester Sommelier Europas 1992, arbeitet als Weinberater und Journalist. Gerade erschien sein Buch „500 Weine unter 10 Euro“ im Hallwag-Verlag