mordernes antiquariat
Die Tagebücher der „Missie“ Wassiltschikow
: Trümmer in Berlin

Irgendwie ist es blöde, aber es lässt sich nicht vermeiden. Wenn man im Augenblick Beschreibungen der Bombardierung Berlins im Zweiten Weltkrieg liest, denkt man an das Attentat auf das WTC in New York: „Am Ende der Lützowstraße waren die Häuser eingestürzt, und ich musste über rauchenden Schutt, geborstene Wasserleitungen hinwegsteigen. Bis dahin hatte ich kaum Feuerwehrleute gesehen, aber hier waren mehrere damit beschäftigt, in Kellern verschüttete Menschen zu befreien.“

Diese Zeilen stammen aus dem Tagebucheintrag der Fürstin Marie „Missie“ Wassiltschikow vom 24. November 1943, kapp eine Woche nach dem ersten massiven Luftangriff der Alliierten auf Berlin – die NS-Probaganda sprach dabei übrigens von „Terrorangriffen“. Wenig später notiert die 26-jährige staatenlose gebürtige Russin lakonisch und mit Sinn für nebensächlich und absurd scheinende Details, dass im Zoologischen Garten, der schwer getroffen wurde, die Käfige beschädigt worden seien. Daraufhin „versuchten die Krokodile, in den Landwehrkanal zu springen.“ Erst kurz vor ihrem Tod im Jahre 1978 beendete Missie, die wiederholt von ihrer Familie zu einer Veröffentlichung aufgemuntert werden musste, die letzten Korrekturen an den frühen Tagebuchaufzeichnungen. Erst 1985 erschien das Buch in seiner Originalsprache Englisch, zwei Jahre später in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Die Berliner Tagebücher der Marie „Missie“ Wassiltschikow 1940–1945“.

Die Einträge beginnen mit der Übersiedlung der Autorin und ihrer Schwester Tatjana am 1. Januar 1940 in die Reichshauptstadt Berlin. Die junge und, wie einige Fotos in der Ausgabe bezeugen, hübsche verarmte Aristokratin findet dank ihrer Fremdsprachenkenntnisse bald eine Stellung: zuerst beim Deutschen Rundfunk, dann in der kulturpolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes. Dort arbeitet sie eng mit einer Gruppe überzeugter Regimegegner um Graf Stauffenberg und dem diesem geistig nahe stehenden „Kreisauer Kreis“ zusammen. Allerdings nimmt Missie nicht aktiv an der, wie sie es nennt, „Konspiration“ teil, sondern ist vielmehr über persönliche Freundschaften mit einigen der Männer des deutschen Widerstands verbunden. Neben der Schilderung des gesellschaftlichen Lebens der oberen sozialen Schichten in Berlin, in denen sich Missie als Frau von Adel hauptsächlich bewegt, und der Luftangriffe auf die Reichshauptstadt stellen die Aufzeichnungen des 20. Juli 1944 den wichtigsten und interessantesten Abschnitt des Tagebuchs dar.

Nicht zuletzt weil die Autorin ihre unmittelbaren Einschätzungen, die aus heutiger Kenntnis teilweise falsch sind und daher oft naiv wirken, nicht im Nachhinein geglättet hat. So entsteht ein subjektives und daher um so eindringlicher wirkendes Zeitdokument: „Ich hielt den Hörer noch immer in der Hand und fragte: „Tot?“ Sie antwortete: „Ja, tot!“ Ich legte den Hörer auf, nahm sie bei den Schultern und tanzte mit ihr durchs Zimmer.“ Wenige Zeilen später malt sich Missie das, wie sie irrtümlich glaubt, geglückte Attentat auf Adolf Hitler aus: „Claus Schenk Graf von Stauffenberg hatte Hitler eine Bombe vor die Füße gelegt. Sie war explodiert, und Adolf war tot.“ JÖRG PETRASCH

„Die Berliner Tagebücher der Marie ‚Missie‘ Wassiltschikow 1940–1945“. btb/Goldmann, 384 Seiten, 17 DM