Vom Ernstfall aufgerüttelt

In diesem Jahr werden tausende von Soldaten vorzeitig den Dienst quittieren, glaubt die zentrale Beratungsstelle. Früher waren es nur wenige hundert

aus Bremen BERND MÜLLENDER

Paul Betz hat viel zu tun in diesen Tagen, und er freut sich darüber. „120 Mails seit gestern Abend“, sagt der 37-jährige Historiker, „da ist wieder richtig was abzuarbeiten“. Bei der „Zentralstelle für

Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer“ melden sich besorgte Wehrpflichtigte. „Die fragen, wie groß ist die Gefahr, dass ich nach Afghanistan muss? Wie geht es weiter? Werde ich einberufen? Wie kann ich jetzt verweigern – und zwar schnell?“

Seit dem 11. September ist auch bei der Zentralstelle vieles anders. „Jetzt wird aber weitergearbeitet“, mahnt der Bildschirmschoner den Geschäftsführer Peter Tobiassen, doch der Hinweis ist überflüssig geworden. Pausen gibt es eh kaum. „Ich bin ja sonst die Ruhe in Person“, sagt der 46-jährige Ostfriese, „aber das ist schon richtig stressig zur Zeit.“ Seit einer Woche sind Aushilfskräfte eingestellt, um Mails zu beantworten.

Die neuen Aufkleber der Kampagne „Wehrdienst – Zivildienst – Nulldienst“ gehen weg, als wären es Semmeln für hungrige Bundeswehrbataillone. Sogar Tobiassens 15-jährige Tochter Mareike hilft mit. Vom Vater zwangsrekrutiert? Nein, beteuert Tobiassen, „die hat das ganz freiwillig gemacht“.

Seit 1976 gibt es die Zentralstelle am Bremer Dammweg als Service- und Lobbyeinrichtung der Gewissenstäter – getragen von kirchlichen Stellen, Jusos, den Grünen, pazifistischen Gruppen, dem linksliberalen Republikanischen Anwaltsverein. Finanziert wird sie durch Zuschüsse, Förderbeiträge und Spenden. Vorsitzender ist der 74-jährige Ulrich Finckh, ein Pfarrer im Ruhestand.

Das Hinterhausbüro, fast eine Baracke, wirkt wie ein Biotop aus den Achtzigerjahren. Leitz-Ordner und Rankpflanzen kämpfen um die Vorherrschaft. An den Wänden hängen Plakate vom Antikriegstag 1989. Auf einer Karikatur wird eine Friedenstaube vom grimmig blickenden Bundesadler stranguliert.

Daneben haben sich Schwein, Huhn, Fisch und Schmetterling zu den „Bremer Stadtmusikanten (B-Mannschaft)“ gruppiert. Ihr plakatives Motto: „Etwas Besseres als die Wehrpflicht finden wir überall.“

Zur Zentralstelle kommen Zivis und Soldaten mit ihren Nöten. Sie beschweren sich über Schikanen oder lassen sich in einem Rechtsstreit beraten. Gerade ist einer persönlich zur Beratung erschienen. Er hofft auf Schadensersatz wegen eines Unfalls im Zivildienst. Ein anderer Klient erzählt am Telefon, dass ihm das Freiwillige Soziale Jahr im Ausland nicht angerechnet werden soll. „Absurd“, sagt Tobiassen. „Der ist Krankenpfleger von Beruf und soll jetzt Zivildienst machen. Also die gleiche Arbeit, aber für 20.000 Mark weniger im Jahr.“

Politische Arbeit und Serviceleistungen für Betroffene – das sieht Tobiassen nicht als Widerspruch. Erstes Ziel sei immer die Abschaffung der Wehrpflicht gewesen. Auch bei der anstehenden Novelle der Gesetze über die Kriegsdienstverweigerung will die Zentralstelle mitreden. Das „Gesetz zur Neuausrichtung der Bundeswehr“ hatten die Abgeordneten genau am 11. September in ihren Postfächern. Wie passend.

„Allein im vergangenen Monat“, erzählt Tobiassen, „sind dreimal so viele Anfragen von aufgeschreckten Soldaten und Reservisten gekommen sind als sonst im ganzen Jahr.“ Gut: Diese vielleicht 150 Leute „schwächen die Verteidigungsbereitschaft nicht“, grinst Kollege Betz. Aber es sei ja nur ein kleiner Teil der Verweigerer, der sich bei der Zentralstelle melde.

Tausende von Soldaten, glaubt Betz, werden in diesem Jahr ihren Dienst quittieren. Die Soldaten dürften sich keine Illusionen machen: „Rein rechtlich ist das Instrumentarium zur Einberufung ins Kriegsgebiet da, seit der Bündnisfall erklärt ist.“

Nicht die Angst vor dem Einberufungsbefehl sei es, glaubt Tobiassen, die jetzt viele Reservisten zu ihm führe. Ihre Heimat zu verteidigen, das hätten die meisten Soldaten immer akzeptiert. Was sie jetzt antreibe, sei „die Empörung, was auf einmal zum Verteidigungsfall gehört – dass wir nun auch Kreuzzüge führen“.

Ob die Kriegsdienstverweigerer über die Jahre unpolitischer geworden sind, nach der großen Friedensbewegung Anfang der Achtzigerjahre? Tobiassen verweigert das Ja. „Es sind viel mehr geworden, und ganz andere Kreise sind dazugekommen.“ 1991 etwa hätten viele Soldaten wegen des Golfkriegs verweigert, weil es in ihren Augen um „Blut für Öl“ gegangen sei.

Auch Vorgesetzte hätte sie zu diesem Schritt ermuntert – indem sie zum Beispiel von einer bevorstehenden Verlegung in die Türkei erzählten. „Wer bis morgen früh nicht verweigert, muss mit.“ Bei der Bombardierung Jugoslawiens vor zwei Jahren sei die politische Diskussion dagegen „ganz anders gelaufen“. Selbst gestandene Pazifisten hätten sich „nur schwer verständlich machen“ können. Deshalb habe es, anders als zu Zeiten des Golfkriegs, keine Flut von Verweigerungsanträgen gegeben.

Wer als Soldat oder Reservist den Wehrdienst verweigert, muss noch immer eine mündliche „Gewissensprüfung“ absolvieren. Rund 4.000 Prüflinge werden pro Jahr vor die Kommissionen zitiert – und dabei noch oft genug mit der berüchtigten Frage konfrontiert: „Sie sind mit Ihrer Freundin im Wald, ein Vergewaltiger kommt, Sie haben zufällig eine Pistole in der Tasche – was würden Sie tun?“ Erst wenn sie diese Prozedur überstanden haben, dürfen die Soldaten den Dienst quittieren – für sie hat der Antrag auf Verweigerung keine aufschiebende Wirkung.

Leichter haben es die Wehrpflichtigen, die ihre Gewissensnot bereits vor der Einberufung offenbaren. Ihre Anträge werden meist umstandslos bewilligt. Eine hohe Zahl von Zivildienstleistenden ist der geschrumpften Bundeswehr, die nur noch jeden zweiten Wehrpflichtigen überhaupt einberufen kann, heute sogar höchst willkommen.

Zudem scheint die Wehrpflicht nicht mehr finanzierbar. Die Bundeswehr muss schon beim Klopapier rationieren, Wehrpflichtige rufen beim Manöver „Peng, peng“, weil an Munition gespart werden muss. „Alles muss auf die Debatte der immensen Wehrungerechtigkeit hinauslaufen“, sagt Tobiassen, „dann haben wir eine gute Chance in den nächsten Jahren.“ Je ungerechter die Situation, desto intensiver wird auch das Bundesverfassungsgericht demnächst die Lage rügen.

Wird sich die Zentralstelle auflösen, wenn die Wehrpflicht tatsächlich abgeschafft wird? Nein, sagt Pfarrer Finckh, die Arbeit würde sich nur ein wenig verändern.

Schon heute gebe es „genug Freiwillige, die erst nachträglich merken, dass ihre Entscheidung falsch war. Extrem gemerkt haben wir das, als Piloten verweigert haben wegen der Kriegseinsätze in Jugoslawien.“ Mindestens acht langjährige Zeitsoldaten hätten sich damals beraten lassen.

„Da muss man erst recht helfen. Und das sind Verfahren, da braucht man erfahrene Anwälte, die wir vermitteln. Da geht es vor den Ausschuss, mündliche Prüfung. Aber einige der Piloten haben es schon geschafft.“

Jetzt wird wieder geflogen. Finckh: „Das neue Gesetz steht zur Beratung im Bundestag an – und niemand weiß nach dem 11. September, wohin die Debatte läuft. Es könnte sein, dass die Wehrpflicht sehr viel schneller abgeschafft wird, weil man für die künftigen Aufgaben Spezialisten benötigt – also eine Freiwilligenarmee. Aber in der CDU wird schon getönt, dass man nun mehr Soldaten brauche.“

Wieder klingelt das Telefon. Und die Stellungnahmen zum neuen Gesetzesentwurf müssen per Fax an alle Landesvertretungen: „Mailen geht nicht“. sagt Tobiassen, „alle wollen immer einen Eingangsstempel machen können.“

Seit dreiundzwanzig Jahren macht Tobiassen den Job, anfangs als studentische Hilfskraft. Hängst einem das nicht zum Hals raus? „Nein! Warum auch? Es sind immer neue Leute, immer andere Fälle. Ich kann Wege aufzeigen, nicht ohnmächtig mit den Behörden umzugehen. Es ist Routine, die Spaß macht.“ Und, nach einer kleinen Pause: „Ich bin ja auch Sozialarbeiter von Beruf.“ Es klingelt erneut: Der Nächste bitte. Die Mitarbeiter sagen, Tobiassen sei „ganz klar telefonsüchtig“.

Wenn Tobiassen mal nicht telefoniert, läuft manchmal Jimi Hendrix im Hintergrund. „Ich brauche gute Musik, wenn ich Bundestagsdrucksachen lesen muss und Referentenentwürfe“. Er habe „mal aufgedröselt“, erzählt Tobiassen, „wie viele Aktenvorgänge entstehen, wenn einer nicht direkt nach dem Abitur eingezogen werden soll. Es sind mindestens zweiundzwanzig. Absurd. Aber tausende sind beschäftigt und können Häkchen machen: Wieder ein Vorgang erledigt.“ Es gehe oft darum, „Posten zu retten – auf Kosten der jungen Leute“.

Mit Paul Betz streit sich Peter Tobiassen zwischendurch, warum so vielen Verweigerern heute die Argumente ausgehen. „Die sagen dann: Ja, Zivildienst ist cooler als Bund. Das Totschießen im Krieg ist kein Thema.“

Aber das könne sich derzeit schnell ändern. Und Tobiassen berichtet vom merkwürdigen Schweigen der Kirchen, eigentlich alte Verbündete, zur Wehrpflichtkampagne: „Ohne Wehrpflicht sind die Pfarrstellen nicht mehr so wichtig, als Kontaktstelle zur Jugend.“ Wenn man Tobiassen nicht bremst, erzählt er von Behördengrotesken und Machtspielchen ohne Ende.

Auch die Kriegssituation hat ihre grotesken Seiten: Als einen Tag nach den Terrorattacken in den USA der vorläufige Bündnisfall ausgerufen wurde, lasen aufgeregte Exsoldaten ihren Gestellungsbefehl für den Kriegsfall und setzten sich sofort ins Auto. „Es sind tatsächlich“, schüttelt Tobiassen den Kopf, „etliche Reservisten nachts ohne jede Voranfrage zu ihren Kasernen gerauscht, um zum Dienstantritt zur Verfügung zu stehen.“

Indes: Was hier wie absurde Gehorsamsgier deutscher Militär-„Schläfer“ aussieht, kann schon morgen Wirklichkeit sein. Pastor Finckh: „Mit dem Bündnisfall können jetzt, rein rechtlich, tatsächlich auch Wehrpflichtige ins Ausland geschickt werden, auch nach Afghanistan.“