Rebellion gegen den rechten Winkel

Kellerkind kehrt wieder: „Der kleine Köchel“ am Deutschen Schauspielhaus zeigt die Geburt des Rituals aus dem Geist der Ordnungswidrigkeit

Mit schöner Regelmäßigkeit wiederholt Lili: „Ich dulde kein Durcheinander.“ In diesem Punkt ist sie, die Figur, ganz im Einklang mit Laurent Chétouane, ihrem Regisseur. Seit seinem Debüt vor zwei Jahren inszeniert er Ordnungen, geometrische Gänge und klare Sätze. Er unterwirft Schauspieler momentaner Stille und Starre, bis in den Ritzen des Regelwerks Emotionen aufbrechen. In den künstlichen Raum der Bühne trägt er Systeme ein, die im Alltag im Gewirr der Zufälle verschwinden.

Etwa bei einer Inszenierung vor einem Jahr. Das Machtgeflecht aus „Phädras Liebe“ von Sarah Kane wurde ablesbar: als Muster von Spuren auf der mit Kreide bestäubten Bühne. Damit visualisierte Chétouane eine Ordnung, die der Text nur diskret anzeigt. Anders bei seinem jüngsten Projekt, der deutschsprachigen Erstaufführung von „Der kleine Köchel“. Das Stück von Normand Chaurette thematisiert ausdrücklich Ordnungsprinzipien. Es trägt ja schon eins im Titel: jenes Verzeichnis, das Mozarts Werke zu einer säuberlichen Reihe formiert.

Zum Paradigma der Regulierung macht Chaurette allerdings etwas anderes: eine Tonart. „Zurück nach B-Dur“, befiehlt Lili, wenn ein Durcheinander droht, wenn ihre Partnerinnen abschweifen oder ungeduldig werden. Für Augenblicke dürfen die Gespräche in Chaurettes Stück neue Motive erkunden, einen neuen Ton anschlagen, aber letztlich müssen sie einem klar vorgezeichneten Gang folgen.

Die Geschwister Cécile und Lili, zwei Pianistinnen, müssen sich über ihre Türklingel unterhalten, über ihre Uhr und die Winterzeit. Wenn Anne und Irène eintreffen, Musikwissenschaftlerinnen und auch sie Schwestern, muss die Rede auf den Keller kommen. Dort vegetiert „unser Sohn“, wie ihn alle vier nennen. Er fühlt sich vernachlässigt, zurückgesetzt gegenüber Mozart, dem bevorzugten Komponisten des Damenquartetts. Er droht, sich umzubringen, und tut es schließlich.

Der Sohn vereinigt alles, was die Ordnung von Kultur, Köchel und Winterzeit sprengt. Seine Existenz erinnert daran, dass einer der Frauen eine Geburt unterlaufen ist. Sein Tod erinnert an den Tod. Zudem zeichnet ihn eine äußerst ordnungswidrige Grausamkeit aus: Er hat ein weiteres Schwesternpaar, die Heifetz-Zwillinge, verspeist. Die vier Damen haben all das verdrängt: Das Kellerkind wird niemals auf der Bühne sichtbar. Und doch kehrt es immer wieder – wie es sich für Verdrängtes gehört. Gegen Ende erfährt der Zuschauer, dass der Sohn der Ursprung der Ordnung ist, dass er für seinen befreienden Selbstmord eine Bedingung gestellt hat: Seine Mütter müssen täglich die Worte wiederholen, die sie in seiner letzten Stunde sprachen.

So wird das Gespräch zum Ritual. Im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses sehen sich die Schauspielerinnen oft gar nicht an, sondern stehen Seite an Seite, parallel oder senkrecht zur Rückwand. Vorübergehend schütteln sie diese Positionen ab, aber dann müssen sie zurück nach B-Dur. Und das heißt hier: zurück in den rechten Winkel.

Ein solches Regime muss Widerstand auslösen. Die Cécile der Ilse Ritter wehrt sich leise: mit heiterer Gleichgültigkeit, mit einem sanften, fast koketten Lächeln. Die Anne der Edith Adam hingegen träumt von der Flucht. Sie hat sogar Vorbereitungen getroffen. Einmal erzählt sie davon: Ihre Lippen stehen unter freudiger Spannung, lockern sich zu einem Strahlen, verziehen sich zu einer großen feuchten Verzweiflung; Das ganze Drama der erträumten Befreiung zieht auf ihrem Gesicht vorbei. Dabei steht sie starr an der Rampe. Ihre Gefühle strahlen durch einen Spalt zwischen strengen Formen, so intensiv, wie es ohne diesen Rahmen wohl kaum möglich wäre.

MORTEN KANSTEINER