Der Einfluss des Augenblicks

Thomas Arslans Film „Der schöne Tag“ folgt seiner Heldin durchs sommerliche Berlin und schwebt zwischen Beobachtung, Beschreibung und Erzählung. Wieder erschließt Arslans Kino Realitätspotenziale, gerade indem es sie nur ästhetisch vermittelt

Das deutschtürkische Identitätsdrama ist nur mehr Hintergrundrauschen

von MANFRED HERMES

Wenn es eine ist, dann lässt sich diese Geschichte dieses Films schnell erzählen. Der Titel sagt schon viel: Der Sommer erleuchtet die Stadt und einen Tag, dessen Stunden genau gezählt sind. Vielleicht ist hier Ironie im Spiel, die auf einen Kontrast zwischen gutem Wetter und schlechten Erlebnissen abzielt.

Am Morgen dieses schönen Tages betrachtet Deniz ihren hübschen Freund jedenfalls mit einem kühlen Blick. Sie ist von seinem Herumirren in Egosackgassen abgestoßen und wird ihn deshalb verlassen. Vorher synchronisiert sie einen Rohmer-Film aus dem Jahreszeitenzyklus, danach spricht sie bei einem Casting vor und wird dann noch einige kleinere Besorgungen machen. So ergeben sich Gelegenheiten, das sommerliche Berlin zu durchmessen bzw. Serpil Turhans Gänge durch den Innenhof ihrer Wohnanlage, das Hinabsteigen der U-Bahn-Treppe, Fahrten im Taxi, in der Straßen-, U- oder S-Bahn zu zeigen. „Der schöne Tag“ hält einen Schwebezustand zwischen Beobachtung, Beschreibung und Erzählung.

Erzählung ist schon ein bisschen viel gesagt. Arslans Film kreist um das Thema Liebe und er verhandelt es variantenreich als Handlung und Kommentar. Die Trennung von Jan vollzieht Deniz unter dem Einfluss des Augenblicks. Jan gibt zu, eine andere Frau gut gefunden zu haben. Deniz ist empört, steigert sich hinein und fühlt sich brüskiert. Da ist sie vielleicht nicht ganz ehrlich, denn den cruisenden Blick, der Offenheit für alle Optionen anzeigt, beherrscht sie selbst ziemlich gut. Später lässt sie sich sogar auf eine richtige Cruising-Bewegung ein; sie entschließt sich, einem jungen Mann, der ihr schon mehrere Male begegnet ist, zu folgen, und im Tiergarten kommt es zum ersten Kontakt. Schnell passt sie ihre Pläne an, wachsen die Hoffnungen, um allerdings bald enttäuscht zu werden. Deniz, die dazu neigt, Gefühle als unhintergehbare Konstanten zu betrachten, trifft im Café dann auf die Journalistin und Autorin Elke Schmitter, die eine Unidozentin spielt, und die erklärt ihr, dass die Liebe konstruktivistisch gesehen doch etwas anders funktioniert.

Deniz ist als „Deutsche türkischer Abstammung“ markiert, aber diese Bestimmung erzeugt hier nur noch wenig Evidenz. Das ist umso erstaunlicher, als Thomas Arslan seit seinem Film „Geschwister“ als Erzähler des deutschtürkischen Identitätskonflikts gilt. Zwei Brüder tragen die Lasten von Assimilation und Identitätsbrüchen in eine Familie, die diese Widersprüche allerdings ohnehin schon enthält. Schon in seinem nächsten Fiilm „Dealer“ wies Arslan allzu schnelle Zuschreibungen beispielsweise durch Bresson-Assoziationen zurück. In die Fallen der Authentizität, in die gerade solche Themen geraten, die im Grunde am wenigsten authentisch zu beschreiben sind und vielleicht deshalb einen Wunsch nach trennscharfen Klischees und Straße auslösen, wollte er nicht treten. In „Der schöne Tag“ ist das deutschtürkische Identitätsthema denn auch völlig zum Hintergrundgeräusch geworden. Kleine Inversionenen und Kontinuitäten auf der Ebene der Besetzung müssen nun reichen, um dieses spezifisch Soziale abzudecken.

Arslan „normalisiert“ seine Figuren, indem er sie allgemeingültig kleinbürgerlich rahmt. Deniz wohnt in einem Idyll des sozialen IBA-Wohnungsbaus, das zwischen der Koch- und Zimmerstraße errichtet wurde. Sie schlägt sich als Schauspielerin durch. Auch in ihrer Umgebung arbeitet man an irgendeiner Stelle dem Kulturbetrieb zu. Damit werden nicht nur gängige Erwartungen unterlaufen, sondern die Figuren an viel realistischere postindustriellen Konstanten und solche Befindlichkeiten angeschlossen, die sich zwischen Einsamkeit, Narzissmus und Optionalismus bilden und uns nicht zuletzt in „Ally McBeal“ als Grundkonflikt städtischer Existenz wöchentlich begegnen.

Aufgezwungene Authentizität kontert Arslan im Übrigen mit filmischem Historismus. Die einschnürenden Seiten des Identitätsthemas relativiert er durch Verweise auf ein gewisses französisches Kino, das ihm auch die Modelle für den eigenen Gebrauch liefert und hier ein virtuelles türkisch-deutsch-französisches Dreieck bildet. Die Hinweise in Richtung Bresson, Rohmer, Godard oder Pialat legt er dabei schon selbst aus. Zwar lässt sich mit den trockenen Universen von Bresson und Rohmer nicht unbedingt die Unwichtigkeit von Erzählung ableiten, schon eher eine Beschränkung auf kleinformatige soziale Verhältnisse. Rohmers Darstellungen „modernen Lebens“ können aber zu Vorlagen einer sozialdemokratisch stillgestellten Gesellschaft werden, in der sich Dynamik aus den Eitelkeiten, Missverständnissen und Hemmungen der Figuren herstellt. Boulevardeske Verschränkungen, wie es sie bei Rohmer gibt, kommen bei Arslan jedoch nicht vor, auch nicht in einer geringen Dosierung. In „Der schöne Tag“ wird nur wenig Veränderung und Dynamik und kaum Dramatik produziert. Allerdings zeigt sich eine Vorliebe für eine ästhetisch saubere, sprach- und ausdrucksarme Atmosphäre, die von keiner nachmodernen Beschmutzungsregel berührt wurde.

Arslan hat schon in „Dealer“ deutlich gemacht, dass er die Rhetorik des filmischen Modernismus schätzt: Reduktion der Mittel bei größter technischer Sorgfalt, naturalistischer Umgang mit dem Licht, eine Ideologiekritik der Storyform. Seiner materialistischen Präzisionsoptik und der erzählerischen Beiläufigkeit entspricht die kleine Ausdruckspalette der Darsteller. Auch Deniz reagiert auf alle Anforderungen und Außeneinflüsse mit der gleichen Gelassenheit: ihre Genervtheiten, Wünsche und Enttäuschungen werden auf das fast ausdruckslose Gesicht von Serpil Turhan und einen monotonen Sprechstil projiziert.

Die Rückseite dieses Stils bildet eine moralische Forderung auch an den Zuschauer, dem genaues Hinschauen als adäquate Rezeptionsform abverlangt wird. Arslan bestärkt diese Aufmerksamkeit allerdings, indem er sehr präzise Bilder herstellt, von denen nicht zuletzt die Stadtansichten profitieren, die sich durch eine sehr genaue Lokalisierung auszeichnen.

Luxus gibt es aber auch auf einem Nebenschauplatz. Bei keinem deutschen Regisseur spielen Ausstattungsdetails eine so eigenständige Rolle wie bei Arslan. (Von „Dealer“ kann ich mich an nicht viel mehr als die vielen schönen Tapeten, eine Bresson-artige Atmosphäre und das Licht erinnern.) Stoffe und barocke Graffitispuren an Häuserwänden und Trambahnscheiben ornamentieren vor allem seine letzten beiden Filme wohl nicht ganz zufällig. So gesehen regt der Film selbst die Metaphern an, die auch seiner Beschreibung dienen können. Zieht sich das deutschtürkische Thema nur noch wie ein dünner Faden durch ein sommerlich leichtes Gewebe, so wird ein Streifenmuster zur Chiffre für erhoffte Nähe. Auf Deniz’ Couch liegt eine gestreifte Decke, und dieses Muster wird schon in der nächsten Einstellung wieder aufgenommen. Der gut aussehende Unbekannte aus der Nachbarschaft, dem sie unentwegt begegnet, trägt ein ebenfalls gestreiftes Hemd. Das Streifenmuster hat hier gewissermaßen auch noch die Funktion, den streng linearen Typ von Handlung zu repräsentieren, um den es Arslan geht.

So selbstbewusst linear dieser Film auch ist, auf Verweise auf andere Erzählweisen will er dennoch nicht völlig verzichten. Wenn Arslan auf Rohmer und Maurice Pialat anspielt, dessen Film „A nos amours“ Deniz beim Casting nacherzählt, dann steht das nicht nur für eine Variation des Liebesthemas, sondern auch für das Gegenteil von dem, was in „Der schöne Tag“ passiert: eine Handlung, an deren Ende etwas anders ist, als es am Anfang war.

„Der schöne Tag“ beendet seinerseits eine Art Trilogie. Ihrer Gesamtbewegung kann man entnehmen, dass Arslan nicht vorhat, sich auf die Rolle des Erzählers von Multikultigeschichten festzulegen. Aber wenn er sich für die Erfüllung einfacher Zuweisungen auch nicht zuständig fühlt, man wird davon ausgehen können, dass er dem deutschen Film auch weiterhin ein Realitätspotenzial erschließt, gerade deshalb, weil er es nur ästhetisch zu vermitteln bereit ist.

„Der schöne Tag“. Regie: ThomasArslan. Mit Serpil Turhan, BilgeBingül, Florian Stetter u. a.Deutschland 2001, 74 Min.