Ein Ort für Klarheit

Aufklärungsarchitektur gegen Überwältigungsfantasien: Am Sonntag wird auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg das neue Dokumentationszentrum über den NS-Staat eröffnet

von IRA MAZZONI

Kaum eine andere deutsche Stadt ist wie Nürnberg mit dem monumentalen baulichen Erbe der Nationalsozialisten konfrontiert. Mit vier Quadratkilometern ist das ehemalige Reichsparteitagsgelände immer noch größer als die beschauliche „Dürerstadt“. Der Altstadt südöstlich vorgelagert befinden sich die sperrigen Relikte einer unvollendeten Marschkulisse: Dort zeichnet sich im Parkgrün die ehemalige Luitpoldarena ab. Dort erhebt sich die fragmentierte Zeppelintribüne, die durch Leni Riefenstahls Film „Triumph des Willens“ als zentraler Kultort des NS-Regimes im Gedächtnis bleibt, aber längst auch einem Bob Dylan als Bühne gedient hat. Dort steht auch der 40 Meter hohe granitbewehrte Torso der Kongresshalle.

Geplant für eine einzige Veranstaltung im Jahr, den Parteikongress der NSDAP, blieb die kolosseumähnliche Zwingburg für 50.000 Organisierte im Rohbau stecken. Lange schon werden einzelne Gebäudeteile pragmatisch genutzt. Im Innenhof stehen blaue Allrader des Technischen Hilfswerks, hölzerne Vorbauten vor den Treppenhäusern schaffen Lagerplätze für Baumaterial und Unterstände für Schrott. Es gibt Proben- und Depoträume für Theater und Orchester, riesige Waren- und Ersatzteillager, aber auch den Atombunker der Stadt.

Selbstverständlich gab es Pläne, den düsteren Giganten zu sprengen. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren sollte die Ruine dann zum Fußballstadion umgebaut werden. 1987 wurde eine Finanzierungsgesellschaft „Kongress und Partner“ gegründet, die die graue Ruine nazistischen Größenwahns in ein buntes „Erlebnis- und Freizeitzentrum“ verwandeln sollte. Die Denkmalschützer intervenierten erfolgreich. Sie konnten auch die Teerung der 60 Meter breiten und zwei Kilometer langen, mit 60.000 Granitplatten belegten Großen Straße verhindern, auf der die Wehrmacht zum Märzfeld marschieren sollte.

Die Zeit des Verdrängens, Vergessens und des verschämten Umgangs ist vorbei. Nürnberg stellt sich seiner Geschichte. Die Kommune konnte das Land Bayern und den Bund davon überzeugen, dass die Einrichtung eines Dokumentationszentrums an diesem Ort eine nationale Verpflichtung ist. Während in Berlin große Architektur- und Mahnmalentwürfe erst gekürt, dann kritisiert und kleingerechnet werden, hat das wirtschaftlich darbende Nürnberg draufgelegt, um das 21,5 Millionen Mark teure Projekt des Grazer Architekten Günther Domenig zu verwirklichen. Darüber hinaus bekamen die Museen der Stadt Nürnberg acht neue Stellen zuerkannt, darunter drei wissenschaftliche, um den Betrieb von Dokumentationszentrum und angeschlossenem Studienforum sicherzustellen. Ein eindrucksvolles Bekenntnis zu einer neuen „Kultur des Erinnerns“. Morgen werden Bundespräsident Johannes Rau, Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber und Nürnbergs Oberbürgermeister Scholl den richtungweisenden Lernort im nördlichen Kopfbau der Kongresshalle einweihen. Vorschusslorbeeren gab es bereits Ende letzten Jahres: Die Unesco vergab den Preis für Menschenrechtserziehung an die Stadt Nürnberg.

Domenigs Eingriff in die maßlose Überwältigungsarchitektur der Kongresshalle überzeugt durch ihre Intelligenz. Die Aufklärungsarchitektur aus Stahl, Glas und lichtgrauem Beton bohrt sich durch die steinernen Massen, durchdringt wie ein klarer Gedanke die Materie, überbrückt Abgründe, quert Höfe und Hallen, führt an mächtige Marmorstürze heran, bietet Überblick über das Gesamtareal und wagt den Sprung ins ungewisse Jetzt. Dabei trumpft der Grazer Architekt nicht auf: Der schieren Monumentalität setzt er die leichte Form entgegen, dem mit grauem Granit ummantelten Ziegelmauerwerk begegnet er mit Minimalismus, die Diktatur des rechten Winkels bricht er mit Diagonalen.

Das neue Dokumentationszentrum in Nürnberg ist entwaffnend schlicht. Es lässt den wichtigsten Zeitzeugen, das Monument, zu Wort kommen und hält ihn gleichzeitig auf Distanz: Eine Erschließungsarchitektur, die ästhetisch und intellektuell Position bezieht gegen die leeren Pathosformeln des unvollendeten NS-Baus. Als semantisches Kontrastprogramm zur nazistischen Metrik der Masse macht Domenigs Dekonstruktivismus an diesem Ort Sinn.

Die Ausstellung zu dem nicht nur historischen Thema „Faszination und Gewalt“ ist schulbuchmäßig mustergültig. Keine volltönenden Inszenierungen, keine Materialienberge, keine Uniformen, Standarten, Parteiabzeichen, Häftlingskleidung, Pritschen und Totenscheine. Stattdessen Wandtafeln mit prägnanten Kurztexten und Bildcollagen wichtiger Dokumente, ergänzt durch leitmotivische, raumdominante Großfotos. Wer nicht lesen mag, kann die ganze Geschichte am umgehängten Apparat mithören. Touchscreens geben Einblick in private Fotoalben und vermitteln Ansichten der Baustellen. Streckenweise arbeiten die Ausstellungsmacher wie Filmregisseure mit kurzen Gegenschnitten. Hier der „Steinversatzplan“ für die Fassaden der Kongresshalle, nachdem die Granitlieferungen aus insgesamt 280 Steinbrüchen nach farblichen Kriterien minutiös eingeteilt wurden. Dort die Bilder aus den Steinbrüchen der Konzentrationslager Flossenbürg und Mauthausen. Dazu ein kurzer Dokumentationsfilm über einen ehemaligen ukrainischen Zwangsarbeiter, der genau wusste, für welche Bauaufgaben er geschunden wurde.

Fotos und Filme sind die nachdrücklichsten Zeugnisse des Dokumentationszentrums. Da darf Medienkritik nicht zu kurz kommen, zumal sich das Dokumentationszentrum vornehmlich an ein jüngeres, ganz und gar medienorientiertes Publikum wendet. Ein spektakulär an zwei Unterzügen aufgehängter, frei über der Eingangshalle schwebender Kinosaal bietet nach dem Rundgang die Gelegenheit, 70 Zeitzeugen zu begegnen. Der 35 Minuten dauernde Film von Reiner Holzemer dokumentiert erschütternde Naivität, rückschauende Schuldbekenntnisse und eine nachhallende Faszination.

So sachlich über den „Frankenführer“ Julius Streicher und seinen Stürmer-Verlag berichtet, so ausführlich die kriegsvorbereitende Regie der Parteitage rekonstruiert wird, so konkret auf die Nürnberger Rassengesetze und den anschließenden Völkermord eingegangen wird – manches kann die Ausstellung nur im Zeitraffer erfassen, um den Bogen zu den Nürnberger Prozessen und den Anfängen einer Völkerrechtssprechung zu spannen. Das neue Dokumentationszentrum markiert den Anfang einer völligen Neukonzeption des gesamten Parteitagsgeländes. Ein städtebaulicher Ideenwettbewerb, an dem sich 82 Planungsteams beteiligten, blieb jedoch ohne überzeugende Ergebnisse. Daher ist auch Domenigs Warnung angebracht, das Erreichte nicht durch Tautologien des Erinnerns zu schwächen. Die gegebene pragmatische Nutzung des Reichsparteitagsgeländes sollte auch weiterhin Bestand haben. Grillfeste vor der Zeppelintribüne gehören schließlich auch zur Rezeptionsgeschichte. Zu viel Ordnung kann an diesem Platz nur schaden.