Das Flüstern des vergnügten Geistes

Er war ein Denker, der das Krumme krumm sein ließ. Das passte zu seiner rheinischen Art. Er war aber auch ein Lehrer, der dem Wissen als Instrument der Macht misstraute. Das passte zu seiner Berufung: Der Philosoph und Soziologe Dietmar Kamper ist im Alter von 65 Jahren gestorben. Ein Nachruf

Sein Vorschlag:Ora et laborazu übersetzen in:Wünsche und arbeite!

von FRITHJOF HAGER

Dietmar Kamper war ein Ereignis der Freien Universität und ist ein öffentlicher Skandal. Er war ein Gelehrter, wie ihn sich die Universität immer erträumt hat. Von den vielen Angehörigen dieser Institution der Lehre und Forschung bestehen doch nur sehr wenige in ihrem Beruf – einem Beruf, in dem man belehren kann durchs Zuhören.

Dietmar Kamper hatte diese Fähigkeit: ganz Ohr zu sein. Und in jedem Gespräch immer wieder mit dem anderen Menschen neu anzufangen: Dafür haben ihn die Studenten geliebt und geehrt. Ihre Gedanken, so unfertig sie ihnen zunächst erschienen, waren nach einem Gespräch mit Dietmar Kamper plötzlich wertvoll, waren es wert, gedacht zu werden. Nun waren sie Erkenntnis, für die es sich lohnte, zu schreiben, zu lesen, nachzudenken. Seine Lebenszeit hinzugeben für eine Idee, sei sie klein oder groß, das war es, was zählte: es war das Eigene, was da verfertigt wurde.

Dietmar Kamper war in vielen Dingen einer, der gerne das Krumme krumm sein ließ. Das passte ihm und seiner rheinischen Art: den Dingen, den anderen Menschen, den Streitigkeiten in der Universität ihren Raum zu lassen; es würde schon jeder selber seinen Platz, an dem er richtig war, finden. Da war er unbesorgt und lässig.

Aber in einem Punkte war er orthodox. Von denjenigen, die für alles und jedes eine Lösung haben, die wissen, wie es zugeht im Leben, von denjenigen, die Wissenschaft ausüben, um über Macht zu verfügen, von diesen Verächtern des Geistes hat er sich verabschiedet. Er hat die Usurpatoren in der scientific community übrigens nicht verachtet. Sie taten ihm leid, denn sie haben vergessen, dass es die Chance des Denkens ist, keine Macht zu haben, ohnmächtig zu sein, nur sich selbst zu vertrauen, nur dem eigenen Gedanken. Was für ein geistiges Vergnügen, was für eine tiefe Erfahrung des Lebens.

Die Angst, lebendig zu sein, hat Dietmar Kamper niemals geleugnet. Das war sein großes Erstaunen. Immer wieder hat er es verwandelt: in zahllose Schriften, Reden, Vorträge, Briefe, Gespräche. Woher kam diese Kraft der Begeisterung, woher hatte er diese Neugier des Neuen? Das war sein provokanter Vorschlag: Ora et labora zu übersetzen in: Wünsche und arbeite! „Einbildungskraft und Sinnlichkeit sind jene Gestalten des Wunsches, in denen das ‚Irrationale‘ noch am längsten zugelassen war. Von der Aufklärung, sofern sie in einer kritischen Philosophie sich niederschlug, als notwendige, wenngleich passive Grundlage der Erkenntnis reklamiert, sind gerade die Phantasie und das sensualistische Prinzip am deutlichsten vom währenden Ausschluss aus dem öffentlichen Diskurs gekennzeichnet.“

Dieser Skandal hat Dietmar Kamper immer wieder aufgerufen. Darin fand er seine Sprache. Die theoretische Vernunft, dass wir uns mit Begriffen der Welt bemächtigen können, um sie zu beherrschen, verkümmert, auch wenn sie die Institution der Universität auf ihrer Seite hat; die praktische Vernunft, die die Welt der Experten für sich in Anspruch nimmt, ist hilflos geworden. Tausend und abertausend Rezepturen, die Welt oder doch mindestens das Leben in der Stadt zu verbessern, lagern in den Kellern der Institute. Wie viel Papiere, so viele zum Schweigen gebrachte Worte. Nur die schwächste Kraft, die poetische Vernunft – sie spricht mit einer leisen Stimme – ist unüberhörbar präsent in den Passionen, die jeder erfahren kann.

Lieber Dietmar, was man aufschreibt und veröffentlicht, soll die anderen erreichen. Wie viele Eilbriefe du sorgsam formuliert hast, von denen du gehofft hast, dass sie diejenigen finden, die sie gern entgegennehmen – wir haben es nicht zählen können. Und es ist keiner vergeblich gewesen. Auch wir schicken diesen Brief, von dem wir nicht wissen können, ob er an seinen Adressaten gelangen wird; aber wir können auch nicht gewiss sein, dass er nicht doch an dich expediert wird.

Du bist am Sonntagabend dieser Woche gestorben. Nach einer schmerzlich erfahrenen Krankheit. „Warum ist mir dies geschehen?“ An wen war diese Frage gerichtet? Sie zeigt, dass der Selbstmächtigkeit des Denkens widersprochen wird. Wer ist das, der da widerspricht und in das Schweigen hineinredet?

Adieu!