Den Kapitalismus neu erfinden

Die Volksrepubliken China und Vietnam verstehen heute den Kapitalismus besser als wir: Er garantiert kulturelle und religiöse Selbstbehauptung und ist das effektivste Werkzeug zur Bekämpfung der Armut – und damit des Terrorismus

von GEORG BLUME

Welcher Regierungschef betet für Verbrecher, die Amerika viel größeren Schaden zugefügt haben als alle Bin Laden dieser Welt, ohne sich deshalb Ärger mit US-Präsident George W. Bush einzuhandeln? Das kann sich nur der japanische Premierminister Junichiro Koizumi leisten. Warum?

Weil sein Land – dessen Führer ihr Volk im Zweiten Weltkrieg in einen ähnlich wahnsinnigen Krieg gegen die USA trieben, wie es heute die Taliban und Bin Laden tun – inzwischen die zweitgrößte Industrienation der Welt ist und auf westliche Sensibilitäten nur noch begrenzt Rücksicht nehmen muss. Dazu gehört, dass man die japanischen Bin Ladens der Vergangenheit ohne schlechtes Gewissen verehrt. Vor den hölzernen Altären des Yasukuni-Schreins in Tokio, der nach dem schintoistischen Kaiserglauben auch die Seelen der von einem internationalen Kriegsgerichtshof 1948 zum Tode verurteilten japanischen Weltkriegführer beherbergt, zollte Premier Koizumi erst in diesem August der antiwestlichen Rebellionshaltung seiner Vorgänger tiefen Respekt. Erntete er deshalb Protest? Nur in China und Korea. Der Westen hat längst gelernt, Japans radikale religiöse Eigenarten zu tolerieren. Bush lud den dreisten Koizumi in diesem Sommer sogar als ersten Tokioter Regierungschef auf seinen Landsitz nach Camp David ein.

Japans Beispiel, das schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl die indische als auch die chinesische Unabhängigkeitsbewegung beflügelte, wird auch im 21. Jahrhundert wieder Schule machen. Denn was können sich die politischen Führer des Islam heute Besseres wünschen, als dass ihre Länder im japanischen Tempo ein westliches Entwicklungsniveau erreichen und gleichzeitig auf friedliche Art und Weise Terroristen wie Ussama Bin Laden als Heilige verehren. Mehr Unabhängigkeit lässt sich für sie im „Krieg der Kulturen“ kaum erzielen.

Tatsächlich wäre die neue globalisierungskritische Bewegung gut beraten, wenn sie – statt dem tauben westlichen Politik- und Wirtschaftsestablishment besserwisserische Lektionen zu erteilen – stärker auf die ureigene Kraft neuer Befreiungsbewegungen im Süden vertrauen würde. Denn Wohlstand wird nicht verschenkt.

Insofern – und nur insofern – hat Bin Laden Recht, wenn er zur politischen Selbstbesinnung der armen Länder aufruft. „Die Welt ist in zwei Lager geteilt“, proklamiert der Terrorist in seiner Kriegserklärung an die USA. Doch ist die von ihm vorgenommene Unterteilung rückwärts gewandt, hasserfüllt und selbstzerstörerisch. Denn er teilt die Welt in „das Lager der Gläubigen und das Lager der Untreuen“ – seine Rede führt in den Religionskrieg, den schrecklichsten aller Kriege.

Legitim wäre dagegen eine ökonomische Kriegserklärung an den Westen, so wie sie sich Japan im Zuge der Öffnung des Inselreichs gegen Ende des 19. Jahrhunderts auferlegte. Sie bestand nach den Worten des japanischen Politologen Masao Maruyama darin, „die Aneignung der europäischen Zivilisation auf die so genannte materielle Zivilisation zu beschränken – also insbesondere auf Industrie, Technik und Rüstung – und dem Eindringen geistiger und politischer Ideen und Prinzipien, wie Christentum, Individualismus oder liberale Demokratie, vorzubeugen.“ Gerade weil dieses Strategiemodell auf Dauer unhaltbar ist, wie die Demokratisierung Japans vor und nach dem Zweiten Weltkrieg bewiesen hat, sollte der Westen es gelten lassen.

Doch die Demokratisierung ist in aller Regel erst der zweite Schritt. Zunächst muss die andere Kultur den Kapitalismus neu erfinden – und gerade das verstehen heute weder die politischen Führer des Islam noch die Globalisierungskritiker.

Die Neuerfindung des Kapitalismus gelang in Japan vor dem Krieg mit dem Aufbau eines der fortschrittlichsten Eisenbahnsysteme der Welt und nach dem Krieg mit der Revolutionierung der Autoindustrie (Toyotismus) und der Entwicklung des Walkmans. Erst auf dieser ökonomischen Basis konnte das Land zweimal ein demokratisches System entwickeln. In den Zwanziger- und Dreißigerjahren bereitete die Demokratie den Krieg mit dem Westen vor, heute gibt sie Japan die Kraft, wenn nötig den Westen zu ignorieren. Besonders auffällig ist das derzeit im Modebereich: Japanische Kids wissen nicht, was Gleichaltrige in den USA und Europa tragen. Denn die supercoole globale Jugendmode wird derzeit von japanischen Designern geprägt. Warum kann diese Mode in Zukunft nicht aus Afghanistan kommen?

Die neue, globalisierungskritische Bewegung macht einen entscheidenen Fehler. Sie spricht ständig von der Notwendigkeit der Zähmung, Bändigung und Kontrolle des Kapitalismus. Diese Botschaft lässt sich in der Tat an die reichen Industrieländer richten, die ihre Profitgier einschränken können, wo beispielsweise der Spekulationsdrang ihrer Wertpapierhändler die langfristige wirtschaftliche Strategieplanung ärmerer Länder behindert. Doch lautet der einzig richtige Ratschlag für die Entwicklungsländer: Nährt den Kapitalismus und lasst ihn explodieren! Denn er ist der einzige Weg zur kulturellen und religiösen Selbstbehauptung.

Diese Einsicht aber umgehen die Globalisierungskritiker, weil sie ihrer diffusen ideologischen Haltung zuwiderläuft, die im Kapitalismus die Wurzel allen Übels sieht. Dabei wusste schon Karl Marx: Kein gesellschaftlicher Reichtum, keine Demokratie und kein Sozialismus ohne die Entwicklung moderner Produktivkräfte.

Also benötigen die Länder der Dritten Welt mehr statt weniger Kapitalismus. Sonst droht das Syndrom des „großen Sprungs nach vorn“: Mao Tse-tung befahl 1959 den chinesischen Bauern, Kommunen zu gründen und ihre Felder zu verlassen, um Eisen für die Industrialisierung zu sammeln – und schuf damit eine Hungersnot, die dreißig Millionen Menschen das Leben kostete. Genauso diktieren die Taliban und andere Diktatoren in armen Ländern heute, wer was produzieren darf und wem es anschließend gehört – kein Wunder, dass die Menschen in Afghanistan Hunger leiden wie die Chinesen unter Mao.

Doch China geht heute einen anderen Weg. Wie Japan hundert Jahre zuvor hat es sich entschlossen, die kapitalistische Herausforderung anzunehmen – und unternimmt seit zwanzig Jahren alles, um die Bedingungen für die Entwicklung moderner Produktivkräfte zu schaffen. Wie in Japan, Taiwan und Südkorea war der erste Schritt dazu eine umfassende Landreform. Das muss die globalisierungskritische Bewegung wissen: Viel wichtiger als ihre Sonntagsforderungen an die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds nach einer sinnvolleren Kreditverteilung ist die Forderung an etliche südamerikanische, afrikanische und asiatische Regierungen nach einer gerechteren Landverteilung, die die noch vorhandenen mittelalterlich-feudalen Besitzstrukturen überwindet.

Die afghanischen Verhältnisse mit ihren dörflichen Clans, unter deren Herrschaft kein Bauer frei über sein Land verfügt, sind das beste Beispiel dafür, dass Fortschritt ohne Sozialrevolution nicht zu haben ist. Sozialrevolutionen in der Dritten Welt sind jedoch nicht das Ergebnis origineller Protestaktionen in der Ersten Welt, deren sich Greenpeace, Attac und andere NGOs rühmen dürfen, sondern stehen am Ende erfolgreicher Befreiungsbewegungen wie in China oder Vietnam.

Das Schweigen der globalisierungskritischen Bewegung zu den Erfolgen kommunistischer Politik in Asien ist in diesem Sinne bezeichnend für die Schwäche auch der bestgemeinten westlichen Rhetorik. Vom größten und erfolgreichsten Armutsbekämpfungsprojekt der Weltgeschichte – nach Weltbankkriterien verringerte sich die Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Chinesen von 1978 bis heute von über fünfhundert auf hundert Millionen – wollen im Westen weder die Regierungen noch ihre Kritiker etwas wissen.

Gemeinsam verschweigen sie, dass die Armutsbekämpfung – von der jetzt alle sagen, wie wichtig sie sei, um die Ursachen des Terrorismus zu bekämpfen – nur in drei Ländern der Welt erfolgreich praktiziert wird: Das sind Mauritius, eine kleine Insel im Indischen Ozean, Vietnam und China.

Ihnen allein hat die Welt zu verdanken, dass die Armut in absoluten Zahlen im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts nicht zugenommen hat. Denn in fast allen anderen Entwicklungsländern nimmt die Zahl der Allerärmsten seit 1990 zu oder stagniert. Diese Bilanz zieht ein im Juni 2000 veröffentlicher Bericht von Vereinten Nationen, Weltbank, Internationalem Währungsfonds und OECD.

Warum aber leugnet man im Westen die Erfolge Vietnams und Chinas? Weil die Regime dieser Länder nicht den eigenen Wert- und Menschenrechtsvorstellungen folgen. Sehr wohl aber folgen sie den Regeln des Kapitalismus, denn darin liegt ihr Erfolgsgeheimnis.

Der chinesische Starintellektuelle Wang Hui, Chefredakteur des Pekinger Intellektuellenblattes Dushu, hatte in diesem Sinne kürzlich ein Aha-Erlebnis: „Bisher zählte ich mich zu den chinesischen Reform- und Globalisierungskritikern. Doch nach dem 11. September muss ich die Frage beantworten: Warum geht die Entwicklung bei uns weiter, aber anderswo nicht? In Afghanistan und überall dort, wo heute gegen Amerika protestiert wird, haben die Massen viel weniger Hoffnung als bei uns. Als Erklärung dafür gibt es bislang nur den säkulären Glauben Deng Xiaopings an Fortschritt, Entwicklung und Modernisierung.“

Deng verstand die Regeln des Kapitalismus. Er war für China, was das berühmte, längst nicht mehr existierende Ministerium für Industrie- und Außenhandel (MITI) nach dem Zweiten Weltkrieg für Japan war: ein Lenker des wirtschaftlichen Fortschritts. Denn um die Kräfte des Kapitalismus in einem Entwicklungsland freizulegen, bedarf es eben nicht nur freier Märkte und freien Handels, wie der Entwurf des neuen Grundsatzprogramms der Bündnisgrünen nahe legt. Sondern es bedarf einer langfristigen Industrie- und Investitionspolitik.

China hat das Problem beispielhaft gelöst: indem es sich für ausländische Investitionen und Handel öffnet, nicht aber für Kapital- und Währungsgeschäfte. Das erfordet Disziplin und den Verzicht auf schnelles Wachstum. Aber multinationale Konzerne, internationale Banken und Hedge Fonds, um die die globalisierungskritische Bewegung so viel Geschrei macht, sind dann nicht mehr in der Lage, die Politik eines Entwicklungslandes wesentlich mitzubestimmen.

Wer dagegen meint, nur ein so großes Land wie China könne den Einfluss der Multis erfolgreich kanalisieren, der schaue auf Vietnam, wo sich in sehr viel kleinerem Maßstab und in sehr viel geringerem Tempo wiederholt, was Globalisierungskritiker für unmöglich halten: eine eigenständige Entwicklung – sogar mit Hilfe der Weltbank. Die indische Volkswirtin Nisha Agrawar legte kürzlich hierzu einen zweihundertseitigen Sonderbericht der Weltbank vor: „Vietnams Angriff auf die Armut“. Demnach sank der Anteil der armen Bevölkerung in Vietnam zwischen 1993 und 1998 von 58 auf 37 Prozent. Zugleich verdoppelte sich die Zahl der Mittelschüler, die der Oberschüler vervierfachte sich. „Experten aus aller Welt fragen nach meinem Bericht, weil Vietnam heute das Modell für Armutsbekämpfung schlechthin ist“, sagt Agrawar.

Das Modell, von dem hier die Rede ist, ist nicht neu: Es beruhte anfangs auf einer Landreform, der sich heute eine breit angelegte Wirtschaftsreform anschließt. So gilt seit Beginn des vorigen Jahres in Vietnam ein Unternehmensgesetz, das die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Entstehung einer neuen Privatwirtschaft schafft. Bereits im ersten Jahr nach In-Kraft-Treten des Gesetzes wurden über zehntausend neue Unternehmen gegründet. Agrawar spricht heute von der „Entfesselung des Privatsektors“ als Vietnams einziger Chance. Ein Globalisierungskritiker würde leider nie so reden.

Sogar noch weiter reicht der negative Effekt der globalisierungskritischen Bewegung: Indem sie sich gegen die privaten und politischen Institutionen der Globalisierung wendet, täuscht sie vor, dass erst eine politische Umkehr auf internationaler Ebene den Ländern des Südens echte Entwicklungschancen böte. Auch die Betonung dessen, dass die heutigen Wirtschaftsprobleme nur noch im globalen Zusammenhang lösbar sind, ist kontraproduktiv.

Man höre lieber Deng Xiaoping aus dem Jahr 1982: „Das chinesische Volk schätzt durchaus seine Freundschaft und Zusammenarbeit mit anderen Ländern, doch mehr noch sein Recht auf Unabhängigkeit und Souveränität.“ Der Westen sollte aufhören, den Ländern des Südens, aus welchen Gründen auch immer – seien sie ökonomischer, ökologischer oder menschenrechtspolitischer Art –, einzureden, dass es dieses Recht auf Unabhängigkeit und Souveränität nicht mehr gäbe. Wofür sonst sollen die Völker arbeiten?

Darum aber geht es: ums Schuften für den individuellen und gesellschaftlichen Fortschritt. Das ist eine mühsame Angelegenheit. Doch weder heilige Religionskriege noch die Tobin-Steuer oder andere intelligente Staatskünste werden die Welt von ihrer die Menschheit beschämenden Armut erlösen, sondern nur der Arbeits- und Befreiungswille der Unterdrückten selbst.

Er aber kann Wunder bewirken: „Menschen in aller Welt werden bald von der Qualität und dem Preis der Waren abhängig werden, die China heute besser anbieten kann als alle anderen Nationen“, schlussfolgerte der japanischen Weltökonom Kenichi Ohmae, nachdem er im Sommer ausgiebig die Volksrepublik bereist hatte. Tatsächlich ist China in Zeiten, da in den reichen Industrieländern weltweit eine Rezession droht, zum Gewinner im internationalen Standortwettbewerb aufgestiegen. Dass dabei unsere hohen westlichen Konsumbedürfnisse vom Aufstieg Chinas abhängig würden – wer hätte das vor nur zehn oder zwanzig Jahren für möglich gehalten?

Hierin aber läge die entscheidene Botschaft einer dem Süden zugewandten weltbürgerlichen Bewegung: Der Fortschritt des Westens lässt sich ein- und sogar überholen. Nicht auf dem Weg Bin Ladens, aber auf dem sozialrevolutionären Weg des Kapitalismus.

GEORG BLUME, 38, langjähriger Japankorrespondent, berichtet heute aus China für die taz