„Ich war vorbereitet“

Gerhart Riegner, ehemaliger Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, war der Erste, der im Juli 1942 Belege für den geplanten Mord an den Juden Europas besaß. Doch im US-Außenministerium wurden diese Erkenntnisse unterdrückt. Ein Gespräch über Obstruktion, ausbleibende Hilfe und den langwierigen Zweifel am Unglaublichen

von PHILIPP GESSLER

taz: Herr Riegner, vor knapp sechzig Jahren haben Sie als erster den Alliierten vom geplanten Massenmord an den Juden Europas berichtet. Denken Sie noch heute jeden Tag an den Holocaust? Ist er noch präsent?

Gerhart Riegner: Natürlich. Das waren die schlimmsten Jahre in meinem Leben. Als ich versuchte, der Welt zu erklären, was geschah – und keiner hörte zu.

Wie sind Sie damit klargekommen: Sie sammeln in der Schweiz Informationen über den Holocaust, melden dies an die US-Regierung – und das wird erst Monate später ernst genommen?

Meine Kollegen beim Jüdischen Weltkongress in New York haben die Information sehr ernst genommen, das habe ich später genau untersucht. Aber die Behörden haben das verworfen. Als ich zum ersten Mal vom Holocaust berichtete, dem amerikanischen Vizekonsul in Genf im August 1942, sagte der mir: „Das ist doch völlig phantastisch – wie kann man das machen?“ Da habe ich ihm geantwortet: „Ich habe zuerst genauso reagiert wie Sie. Aber ich habe mich überzeugt, dass das hier ernst zu nehmen ist.“

Sie haben da also schon das Unglaubliche geglaubt: dass Millionen Menschen umgebracht werden.

Ich habe ja mehr gewusst als die gewöhnlichen Leute. Eigentlich ist es erstaunlich, wie gut ich informiert war – über viele Hinweise. Ich hatte keinen Secret Service, aber ich hatte dennoch sehr genaue Berichte und versuchte, alles zu erfahren. Ich wusste schon seit Beginn des Feldzugs gegen die Sowjets im Juni 1941, dass fürchterliche Dinge dort geschehen. Da bekam ich eine Nachricht nach der anderen, anonym, zum Teil von Leuten, die mich kannten. Die erzählten mir, dass deutsche Truppen an der Ostfront viele Tausend Juden umgebracht haben, so dass ich im Oktober 1941 – drei Monate nach Beginn des Russlandfeldzugs – meinem Chef, Nahum Goldmann, nach New York schrieb: „Wenn das so weiter geht, habe ich das ernste Gefühl, dass nach dem Krieg westlich der Weichsel und Pruth kaum noch Juden existieren werden.“

Im Grunde haben Sie ein Jahr Informationen gesammelt, erst dann sind Sie an die amerikanische Regierung herangetreten.

Ja. Ich hatte schon dem US-Kongress über Massenmorde berichtet. Aber ich wusste zuerst nichts von dem Plan zum Holocaust. Mir war lediglich klar, dass grauenhafte Dinge passierten. Dass hinter dem Ganzen ein Plan zur völligen Ausrottung des europäischen Judentums stand, wusste niemand, bis ich es herausfand und im August 1942 meldete. Ich habe später viele Leute befragt, ob meine Nachricht eine Überraschung für sie war. Darauf antworteten mir Vertreter der polnischen Exilregierung: „Wir wussten, dass in Polen die Juden umgebracht werden, aber dass dahinter ein Plan zur Ausrottung aller Juden stand, das wussten wir nicht. Das war das Neue.“

Warum hat die amerikanische Regierung Ihre Informationen nicht ernst genommen?

Darauf gibt es verschiedene Antworten. Die haben einfach nicht gewusst, was sie – ich bin jetzt sehr brutal – mit den Juden machen sollten, weder die Engländer, noch die Amerikaner. Es gab doch Vorschläge, man solle verhandeln mit den Deutschen, dass die dann Millionen heraus lassen. Aber man wusste nicht, was man mit den Juden tun sollte. Dann haben sie im Grunde gesagt, es sei besser, dass sie umkommen, als dass wir uns weiter nach einem Asyl für sie umschauen. Brutal, aber so war es.

Richard Lichtheim von der „Jewish Agency“ in Genf hat schon 1939 unter Zionisten sehr hellsichtig gewarnt, dass alle Juden Europas vernichtet werden könnten. War vielleicht diese frühe Warnung, als die eigentlichen Ermordungsaktionen noch nicht begonnen hatten, sogar kontraproduktiv, da man dann Ihren belegten Informationen nicht mehr geglaubt hat?

Nein, das hatte keinen Einfluss. Meine erste Erfahrung war zu Pfingsten 1939: Da besuchte mich Walter Gerson, ein Vertreter der Danziger Juden. Er sagte mir: „Man wird Millionen Juden umbringen, und wir werden sie gar nicht schützen können. So brutal sind diese Leute.“ Der malte mir in seiner Phantasie aus, was geschehen würde – und was dann tatsächlich geschah. Als ich im Juli 1942 die erste Nachricht aus einer zuverlässigen und hoch angesiedelten deutschen Quelle vom Plan der Ermordung aller europäischen Juden erhielt, habe ich immer daran gedacht. Ich war irgendwie vorbereitet.

Der „Papst“ der Holocaust-Forschung, Raul Hilberg, hat geschrieben, das US-Außenministerium habe auf diplomatischen Wege versucht, Ihre Meldungen abzufangen.

Man hat Instruktionen gegeben, meine Telegramme nicht mehr anzunehmen.

Warum?

Weil die Telegramme an die jüdischen Organisationen es diesen erlaubten, Druck auf die Regierung auszuüben. Man sagte sich, wenn wir diese Quelle abschneiden, hört der Druck auf.

Warum gingen diese Telegramme überhaupt über das US-Außenministerium und nicht direkt an die jüdischen Organisationen?

Im Krieg hatten wir eine schreckliche Zensur in der Schweiz. Wenn ich zur Post gegangen wäre und das Telegramm aufgegeben hätte, hätte mir die Schweizer Regierung das Telegramm zurückgeschickt. Es wäre nie verschickt worden. Das versteht man nicht, wenn man nicht die Kriegsatmosphäre von damals kennt. Die Zensur hat sogar die Berichte zu Ausrottungen unterdrückt, die in Schweizer Zeitungen, wenn auch nur sporadisch, erschienen oder erscheinen sollten. Die Schweiz hatte absolute Angst vor den Deutschen.

Die Briten und Amerikaner wollten also zunächst gar keine Informationen über den Holocaust, weil es sie unter politischen Druck gesetzt hätte?

Genau. Es gibt ein berühmtes Telegramm, in dem die US-Gesandtschaft in Bern angewiesen wird, keine privaten Meldungen mehr durchzugeben. Auf dem Telegramm gibt es eine Referenznummer, die sich direkt auf meinen letzten Bericht bezog. Man hat Instruktionen gegeben, meine Sachen nicht mehr zu akzeptieren.

Sie konnten nichts dagegen tun?

Im April 1943 habe ich ein sehr langes Telegramm an die US-Gesandtschaft geschickt mit der Bitte, es weiterzuleiten. Da klappte irgendetwas mit dem Telegramm nicht – man hatte mir natürlich nicht gesagt, dass man Instruktionen hatte, nichts mehr von mir weiterzuleiten. Aber der US-Gesandte hatte gesagt: „Das sind doch ungeheuer interessante Sachen, die der da schreibt. Das muss man doch weitergeben.“ Da haben sie gedruckst, eine Woche lang. Dann haben sie mich gefragt, ob ich bereit sei, das Telegramm zu bezahlen. (lacht) Wissen Sie: Bei einem verschlüsselten Telegramm weiß man doch gar nicht, was das kostet. Es war ein großes Telegramm von zwei, drei Seiten. Also habe ich gesagt, dass ich es bezahlen werde. Es war das teuerste Telegramm, das ich je in meinem Leben geschickt habe. Es hat ein Monatsgehalt von mir gekostet. (lacht)

Was hätten denn die Alliierten machen sollen?

Sehr einfach: Die meisten Leute hätte man retten können, indem man Visas gibt und die Leute reinlässt. Man hat ja gar nichts getan. Uns hat man die ganze Zeit gesagt, die Einwanderunsgquote sei voll. In Wirklichkeit stimmte das nicht. Dafür war im US-Außenministerium ein hoher Beamter, Abteilungsleiter Breckingridge Long, verantwortlich. Er war mit allen Aspekten des Flüchtlingsproblems betraut. Long wollte die Juden nicht in Amerika haben. Es war derselbe Mann, der die Instruktion gegeben hat, man solle meine Sache nicht mehr lesen. Um die Jahreswende 1943/44 wurde Long übrigens entlassen. Dennoch: Es gab einen Antisemitismus im State Department. Das ist ein Faktum.

Wann wurden die Amerikaner schließlich aktiv?

Als US-Finanzminister Henry Morgenthau vorschlug, eine Hilfsorganisation für die verfolgten Juden zu schaffen. Das „War Refugee Board“ wurde im Januar 1944 gegründet, in ihm waren das Außen-, das Finanz- und das Kriegsministerium vertreten, und es gab Vertreter in allen Gesandtschaften in den neutralen Ländern. Bis Mai 1945 wurden durch diese Aktivitäten nach meiner Schätzung fünf- bis sechshunderttausend Menschen gerettet.

Es ist immer wieder von der Möglichkeit die Rede, die Gleise nach Auschwitz oder das Konzentrationslager selbst zu bombardieren. Wäre das möglich gewesen?

Ja. Die Amerikaner hatten die detailliertesten Karten ihrer Luftaufklärung von dieser niederschlesischen Gegend. Doch uns hat man gesagt: „Das Bombardement geht nicht, das ist zu weit weg. Die Bomber hätten nicht genug Treibstoff, um wieder zurückzukommen.“ Das war eine Lüge. Wir wissen heute, dass zu der Zeit, da wir verlangt haben, Auschwitz zu bombardieren, fünf Bombardements fünf Kilometer von Auschwitz entfernt auf das Lager Monowitz heruntergingen, wo die IG Farben ihre Fabrik zur Produktion von künstlichem Gummi hatten.

Sie haben also bis heute keine Erklärung dafür, warum das Bombardement von Auschwitz nicht erfolgte?

Ich will Ihnen dazu eine Geschichte erzählen: Im November 1944 fand in Atlantic City eine große Konferenz des Jüdischen Weltkongresses statt, auf der man das Nachkriegsprogramm für das jüdische Volk definierte. Danach schickte man Delegationen zu den verschiedenen Staatsmännern, um sie zu informieren. Leon Kubowitzki, der damalige Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, leitete die Delegation, die zu John McCloy geschickt wurde, dem Vizekriegsminister, der die eigentliche Leitung des Ministeriums innehatte und später der Hohe Kommissar in Deutschland wurde. McCloy bat um ein Vieraugengespräch und sagte zu Kubowitzki: „Na, jetzt, wo wir allein sind, können Sie es mir doch zugeben: Das ist doch alles Propaganda, nicht?“ Noch sechs Monate vor Kriegsende hat der entscheidende Minister des größten Landes, das in den Krieg verwickelt war, nicht an die Ermordung der Juden in ganz Europa geglaubt. Wie sollte dieser Minister Befehle geben, Auschwitz zu bombardieren, wenn er selbst nicht daran geglaubt hat?

PHILIPP GESSLER, 34, ist Redakteur im Berlinressort der taz