Die Moschee im Dorf lassen

Da es jenseits der Nachrichtenschleifen kaum Bilder aus Afghanistan gibt, sind die Filme der Nachbarrepubliken umso aufschlussreichere Zeugnisse einer Region: Im Rahmen der Viennale präsentierte das österreichische Filmmuseum das Kino der zentralasiatischen Republiken in einer Retrospektive

von ANKE LEWEKE

So cineastisch und zeitgeschichtlich engagiert diese Wiener Retrospektive auch konzipiert gewesen sein mochte, nach den jüngsten weltgeschichtlichen Ereignissen sah man auch diese Filme plötzlich nicht mehr nur als Filme. Vom Kino der zentralasiatischen Republiken erwartete man nun den Einblick in die viel zitierte fremde Wirklichkeit, Stimmungsbilder, kulturgeschichtliche Zusammenhänge und Stellungnahmen zur islamischen Tradition in der Region. Wenn es jenseits der Nachrichtenschleifen schon kaum Bilder aus Afghanistan gibt, dann, so dachte man, sollten doch wenigstens die Filme der Nachbarländer Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan sowie der weiteren zentralasiatischen Republiken Kasachstan und Kirgisien Aufschluss über die kulturellen Dispositionen einer Gegend geben können.

Die im Österreichischen Filmmuseum in Zusammenarbeit mit der Viennale gezeigten Filme spannten einen Bogen von ungefähr vierzig Jahren, also von der Zeit, in der alle zentralasiatischen Republiken zur UdSSR gehörten, bis hin zur pseudodemokratischen Gegenwart der neureichen Potentaten und ihrer buchstäblichen Clanwirtschaft. Inhaltlich ergibt sich damit eine Bewegung, die mit der sowjetischen Unterdrückung der ursprünglichen kulturellen Lebensformen wie Nomadentum, Stammeswesen, Schamanismus und Islam beginnt. Dann die mit der Perestroika eintretende Rückbesinnung auf Mythen und Bräuche bis hin zu knallharten Bestandsaufnahmen von Gewalt und Turbokapitalismus in den nun unabhängigen Republiken. Zensierte und postkommunistische Bilder, folkloristische Ajtmatow-Verfilmungen und marxistische Lehrstücke, Jugendrevolte und Fabeln von der Altersweisheit – überraschenderweise gab es in der ungeheuren Vielfalt des Gezeigten zumindest eine formale Gemeinsamkeit: die Vormacht der Totale.

Stalins Melting-Pot

In der Totale kommt alles zusammen, der beschnittene Jude und die orientalische Bauchtänzerin, das alte Musikinstrument und der neumodische Plattenspieler, das engstirnige Funktionärswesen und die herzliche Gastfreundlichkeit. Es ist „Das Lied vom jungen Akkordeonspieler“, das diese unorthodoxe Truppe aus Satybaldy Narymbetows Film jeden Samstagabend gemeinsam das Tanzbein schwingen lässt. Ein Regisseur wirft einen Blick zurück in seine Jugendzeit Anfang der Fünfzigerjahre und nimmt den Zuschauer mit in eine Welt fern der sowjetischen Uniformität, in eine Welt, die aus ihren Gegensätzen eine kuriose Spannung zieht. Bei seinen Streifzügen durch ein kasachisches Dorf schnappt der heranwachsende Esken ganz unterschiedliche kulturelle und politische Einflüsse auf. Im Kino läuft Chaplins „Lichter der Großstadt“, in der Bibliothek stehen die Meisterwerke der russischen Literatur. Sein bester Freund ist jüdischer Abstammung und kommt aus einer fernen Großstadt, deren Namen Esken nicht kennt. Am Tisch des Vaters werden verschiedene politische Haltungen gewälzt, denn auch die japanischen Kriegsgefangenen sind hier gern gesehene Gäste.

Ein kleines Dorf als Mikrokosmos und Gegenentwurf zur sowjetischen Gesellschaft – unter Stalin übernahm Kasachstan quasi die Funktion von Sibirien. Roma, Orthodoxe, Oppositionelle, alles was sich nicht mit dem offiziellen Bild vereinbaren ließ, wurde in die ausgedörrte Steppe zur Minenarbeit verbannt. Mit seinem 1994 entstandenen Film unterstreicht der gebürtige Kasache Narymbetow, dass die ethnische und religiöse Vielfalt seiner Heimat paradoxerweise Folge einer repressiven Bevölkerungspolitik ist. Plötzlich bekommen demografische Daten wie 47 Prozent Muslime und 46 Prozent Christen oder auch 32 Prozent Russen, 45 Prozent Kasachen und 8 Prozent Ukrainer geschichtliche Dimension.

Mit einer Legende um Alexander den Großen, der über Zentralasien das persische Reich erobern wollte, verweist Narymbetows tadschikischer Kollege Djamshed Usmonov zu Beginn seines Films „Der Flug der Biene“ (1998) auf eine noch viel weiter zurückliegende Zeit bewegter Geschichte. Ein Dorfschullehrer macht mit den Kindern einen Ausflug ins nahe gelegene Gebirge, das vor hunderten von Jahren Schauplatz erbitterter Schlachten war. Mit kleinen Anekdoten oder Prologen wie der Unterrichtsstunde in Usmonovs Film betten die jungen Regisseure ihre Geschichten wie nebenbei in einen historischen Rahmen, während die Totale immer wieder versucht, Widersprüche und Vielfalt der Region in einer Einstellung zu bündeln. Ausdruck einer Haltung, die die Gegensätze nicht gegeneinander ausspielt, sondern gleichberechtigt dokumentieren will.

Sicher ist es auch die Faszination der unendlichen Weite, der zerklüfteten Gebirgsketten und der sagenhaften Panoramen, die die Regisseure zur Totale regelrecht verführt. Immer wieder geht es in zentralasiatischen Filmen um Daseinsformen, die sich weder nach sowjetischem noch kapitalistischem Plansoll richten und die sich stattdessen an die Gesetze der Natur halten.

Jenseits der Moderne

Regelrecht verblüfft ist man als Zuschauer über das Produktionsdatum der Kurzdokumentation „Teufelsbrücke“. Noch im Jahre 1997 ist eine waghalsige Drahtseilkonstruktion über einen reißenden Fluss die einzige Verbindung eines abgeschiedenen kirgisischen Bergdorfes zur Außenwelt. Er habe, so der Regisseur Temirbek Birnasarow, einen Film über das alltägliche Leben an einem nicht alltäglichen Ort machen wollen.

Ohnehin scheint die gewaltige zentralasiatische Landschaft ein Eigenleben zu führen, das sich weder von der Weltgeschichte noch von der Moderne weiter beeindrucken lässt. Schon zu Sowjetzeiten konnten sich die Regisseure dieser eigenartigen Aura nicht entziehen. In dem essayistischen Collagefilm „Meine Heimat“ (UdSSR, 1971) geht das ursprüngliche Leben in der kargen Steppenlandschaft unberührt weiter, während Hitler seine Reichsparteitagsrede hält oder in Vietnam die Bomben fallen.

Ansonsten war der Blick auf dörfliche Lebensformen in den Sechziger- und Siebzigerjahren häufig von latenter Fortschrittsideologie geprägt. Der turkmenische Regisseur Hodschakuli Narlijew wollte mit seinem Film „Die Schwiegertochter“ (UdSSR, 1972) seiner Heimat und dem traditionellen Hirtenleben im Wechsel der Jahreszeiten ein Denkmal setzen. Doch die allzu herausgestellte Farbenpracht und die prächtigen Kostüme sperren seinen Film und das Leben in der Wüste in ein folkloristisches Museum. Da wundert es nicht weiter, dass der alte Schäfer auf staatlich abgestellte Hilfe aus der fernen Stadt wartet.

Während Narlijews Film fast an Technicolor erinnert, nehmen seine jüngeren Kollegen die Farbe fast heraus oder drehen direkt in Schwarzweiß. Ausdruck einer veränderten Haltung, die nicht mehr auf Ästhetisierung, sondern auf geradezu ethnografische Beobachtung setzt: Der zentralasiatische Regienachwuchs hat großteils während der Perestroika an der renommierten Filmhochschule in Moskau studiert. Zurück in der Heimat fanden die Filmemacher ihre Dörfer im Umbruch vor, damit einher ging eine Rückbesinnung auf Traditionen. Plötzlich wurde das ursprüngliche dörfliche Leben identitätsstiftend.

Eine Bewegung, die der Kirgise Aktan Abdykalykow in „Beschkempir“ (1998) festgehalten hat. Fünf alte Frauen segnen ein Neugeborenes. Weil es aus einer kinderreichen Familie stammt, wird es gemäß einem alten Brauch an ein Ehepaar verschenkt, das keine Kinder bekommen kann. Wie es das Ritual vorsieht, wird der Säugling „Beschkempir“ (zu Deutsch: fünf alte Frauen) gerufen. Abdykalykow erzählt die Geschichte vom heranwachsenden Jungen in schwarzweißen Bildern, wenn es um die Sitten und Rituale geht, wird das Bild hingegen farbig, so wenn die alten Frauen ihren tradionellen Webarbeiten nachgehen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass da Fäden aus einer anderen Zeit in der Gegenwart weitergesponnen werden.

Beiläufiges Beten

Natürlich gibt es sie auch, die Filme, die den ethnografischen Blick ganz ablehnen, indem sie ganze Landstriche zeigen, die lethargisch vor sich hin dämmern, die weder vom neuen Kapitalismus profitieren noch Rückhalt in der Tradition finden. Mit dem kasachischen Mythos „vom Dorf als Quelle aller Dinge“ räumt Serik Aprymow in seinem 1989 entstandenen Film „The Last Stop“ jedenfalls gründlich auf. Sein sezierender Blick zeigt eine Gemeinschaft, die immer mehr korrumpiert und alle moralischen Werte zum Teufel jagt.

Was bleibt, wenn auch die Sitten, Bräuche und Rituale nicht mehr greifen? Welche Wertvorstellungen oder Ideen verbindet eine seit zwei Jahrhunderten vom Islam geprägte Region? Natürlich hatte man auf den vorsintflutlichen Sesseln des Österreichischen Filmmuseums noch im hintersten Winkel der Bilder verstohlen nach Moscheen oder Gebetsteppichen gesucht. Man konnte ihnen begegnen wie zum Beispiel in „The Time of Yellow Grass“ (Tadschikistan, 1991). Doch mittlerweile haben sich in Allahs Haus wilde Vögel eingenistet, weil ohnehin kaum jemand mehr hingeht. In der usbekischen Groteske „Sis Kim Sim“ finden die lautstarken Diskussionen ein abruptes Ende, wenn die Dorfpolizisten völlig unvermittelt miteinander beten. Direkt danach wird die Tonspur wieder hochgezogen. In „Der Flug der Biene“ führt ein Greis einen kleinen Jungen in Gebetsrituale ein. Eine Initiation, die niemanden weiter zu kümmern scheint.

Es sind solche eher beiläufigen Szenen, die den Eindruck erwecken, dass der Islam im Alltag der zentralasiatischen Dörfer keine dominante Rolle spielt, dass das Leben letztlich durch einen anderen Rhythmus bestimmt wird. Auch hier beharren die Filmemacher auf der Totalen und verweisen stets auf die Koexistenz mehrerer Religionen. Ohnehin wurde die zentralaisatische Steppe erst sehr spät islamisiert, die theologische Festigung erfolgte eher vom Norden durch die Tartaren des Russischen Reichs im 19. Jahrhundert als durch den arabisch-iranischen Süden. Nach wie vor ist die religiöse Praxis von schamanischen Glaubenswelten geprägt.

Am besten bringt die ineinander verschränkten Religionen und Lebensformen wohl Bachtijar Khudojnasorows 1991 entstandenes Roadmovie durch die tadschikische Steppe auf den Punkt. In „Bratan“ fahren zwei Brüder vorbei an Moscheen und christlichen Kirchen, streifen die Übersinnlichkeit des Schamanismus und gewinnen Einblick in die buddhistischen Lehren. Allumfassendes Integrationsmoment bleibt allein die majestätische Landschaft und die von ihr ausgehende Mystik.