„Wichtig ist die Korrektur der Ungleichheit“

Joseph E. Stiglitz, diesjähriger Nobelpreisträger für Wirtschaft, über die Folgen bisheriger Liberalisierungsabkommen

taz: Es wird behauptet, nach dem 11. September sei nichts mehr wie zuvor. Gilt das auch für die Globalisierung und die eher geringen Aussichten, dass in Doha eine neue Welthandelsrunde eingeläutet wird?

Joseph E. Stiglitz: Zumindest hat der 11. September in den USA, dem mächtigsten Akteur der Weltwirtschaft, das Gefühl für die Bedeutung gegenseitiger Abhängigkeit verstärkt. Es wurde eine kritische Debatte über die unilaterale Politik ausgelöst, die die Bush-Regierung vor dem 11. September betrieben hat. Zu Beginn der Bush-Regierung hieß es beispielsweise noch, China sei wirtschaftspolitisch und zunehmend auch militärisch ein Gegner, ein Feind der USA. In China finden enorme Transformationen statt. Jetzt realisieren wir, dass China ein Verbündeter ist. Morgen wird China als Vollmitglied in die WTO aufgenommen. Das bedeutet eine große Veränderung der geopolitischen Lage.

Erhöht das die Chance für Korrekturen der ja auch von Ihnen kritisierten „neoliberalen Globalisierung“?

Nach dem 11. September ist vielen Menschen die enorme wirtschaftliche und soziale Ungleichheit in der Welt noch bewusster geworden. Diese Ungleichheit kommt auch in den Abkommen zum Ausdruck, die 1994 zum Abschluss der letzten „Uruguay-Welthandelsrunde“ vereinbart wurden und seither von der damals gegründeten WTO verwaltet werden. Die USA, Kanada, Japan und die EU haben in unverhältnismäßiger Weise von dieser Freihandelsrunde profitiert. In vielen Entwicklungsländern hat die Liberalisierung zu einer Verschlechterung der Volkswirtschaften geführt, denn sie lieferte diese Länder der Unsicherheit der internationalen Märkte aus.

WTO-Generalsekretär Moore und seine Vorgänger behaupten aber, von den Abkommen der Uruguay-Runde hätten „alle WTO-Mitglieder profitiert“.

Das ist Unsinn und reine Propaganda, an die die Experten in der Genfer WTO-Zentrale selber nicht glauben. Der Anteil Afrikas an der Weltwirtschaft ist seit Mitte der Neunzigerjahre nachweislich zurückgegangen. Nehmen Sie die Agrarverträge, die bislang nicht zu einer Öffnung der Märkte Europas, Japans und Nordamerikas geführt haben. Oder nehmen Sie die Vereinbarung über handelsrelevante Patentrechte, die „Trips“: Spätestens der Prozess Südafrikas gegen die großen Pharmakonzerne um den Zugang zu preiswerten Aids-Medikamenten hat gezeigt, dass die Trips-Vereinbarung ein völliger Fehlschlag ist. Das heißt noch nicht, dass diese Probleme jetzt in Doha schon korrigiert werden. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Handelspolitik der USA und der anderen großen Wirtschaftsmächte von egoistischen Sonderinteressen diktiert werden. Doch allmählich erwachsen Gegenkräfte auch aus den Bevölkerungen der Industriestaaten. Die Zivilgesellschaft mischt sich heute stärker ein und sagt: Was unsere Regierungen im Rahmen der WTO vertreten, entspricht nicht unseren Interessen. Zum Beispiel wollen auch die Einkommensschwächeren in den USA Zugang zu erschwinglichen Medikamenten erhalten.

Die über 100 Staaten des Südens unter den 142 WTO-Mitgliedern streben in Doha erleichterte Bedingungen an für die Umsetzung der bisherigen WTO-Abkommen. Ist das ein legitimes Anliegen?

Unbedingt! Die Korrektur der durch die Liberalisierungsverträge der Uruguay-Runde erzeugten Ungleichheiten ist viel wichtiger als der Start einer neuen Welthandelsrunde. So wird etwa das Textilabkommen aus dem Jahre 1994 völlig unfair umgesetzt. Wenn die Industrieländer zwar, wie vorgesehen, ihre Importquoten abschaffen, zugleich aber Zölle erhöhen, mit denen die Textilimporte aus den Entwicklungsländern dann doch effektiv verhindert werden, dann ist das schlecht. Die Art und Weise, wie die Industriestaaten – in erster Linie die USA – die 1994 vereinbarten Anti-Dumping-Maßnahmen umsetzen, ist sehr oft zum Nachteil der Entwicklungsländer.

WTO-Generaldirektor Moore sagt aber, die Beschwerden der Länder des Südens ließen sich nur im Rahmen einer neuen Welthandelsrunde lösen.

Diese Meinung teile ich nicht. Die zentrale und auf Grund bisheriger Erfahrungen berechtigte Befürchtung der Entwicklungsländer ist doch, dass sie sich in Doha auf eine neue Verhandlungsrunde einlassen, bei der die Industriestaaten erneut die Bedingungen diktieren. Es ist die berechtigte Sorge der Entwicklungsländer, dass sie im Endeffekt genötigt werden, Abkommen zu unterzeichnen, die nicht wirklich in ihrem Interesse sind.

Lässt sich das verhindern?

Meine Hoffnung ist, dass diesmal genug Leute darauf schauen, wie die künftigen Vereinbarungen entwickelt werden und notfalls sagen: Das ist nicht akzeptabel. Die bisherigen WTO-Vereinbarungen sind alle in Geheimverfahren zustande gekommen.

Gegen die ja auch von Ihnen geforderte Einführung von Sozialstandards in internationale Handelsabkommen oder von Umweltstandards wehren sich die Entwicklungsländer mit dem Protektionismusverdacht.

Es gibt Wege, Sozial-und Umweltstandards einzuführen, ohne dass das zu Protektionismus führt. Zum Beispiel ließe sich vereinbaren, dass Verstöße gegen das Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht oder gegen den Klimaschutzvertrag von Kyoto mit Handelssanktionen geahndet werden. Entscheidend ist, dass derartige Sanktionen nicht selektiv und unilateral von einzelnen Staaten gegen andere ergriffen werden, sondern dass sie Teil eines international vereinbarten Regelwerkes sind, das dann auch für alle WTO-Mitglieder gleichermaßen gilt.INTERVIEW: ANDREAS ZUMACH