Erhöhte Dosis

Als ob zwanzig Kleinhirne miteinander kommunizierten: ein Porträt des Berliner Jugendpsychiaters und Schriftstellers Jakob Hein anlässlich des Erscheinens seines ersten Buches „Mein erstes T-Shirt“

Ob er mal Professor wird, weiß er nicht: „Man muss viel Zeugs veröffentlichen.“

von FALKO HENNIG

Vielleicht hilft es, wenn ich die Karten auf den Tisch lege: Ich kenne Jakob Hein persönlich, er hat schon einmal eine völlig übertriebene Lobeshymne auf meine Person und meinen ersten Roman veröffentlicht. Außerdem halten wir gemeinsam einen Vortrag über „Halluzinationen bei den Simpsons“, Heins bevorstehende Publikation einer Arbeit über Absinth im Deutschen Ärzteblatt muss in diesem Zusammenhang genannt werden. Der Verdacht einer Mauschelei mag also entstehen.

Aber Jakob Heins erstes Buch „Mein erstes T-Shirt“ verdient völlig uneingeschränktes Lob, es ist unterhaltsam, ein wunderbares kleines Werk, wie Kristall, Wodka und Bärenblut ohne Kater. Der Reiz dieser Sammlung von Erinnerungen liegt nicht nur in der Erweckung der DDR-Vergangenheit. Eine wichtigere Rolle spielt die Fähigkeit zu erzählen, ob nun schriftlich oder mündlich, Hauptsache nicht langweilig. Am Beispiel Wladimir Kaminers, der dem Buch ein Vorwort beisteuerte, kann man sehen, wie auch noch die trivialste Angelegenheit der Welt geheimnisvoll, grauenhaft, komisch oder erhebend sein kann, wenn man sie nur aufzuschreiben oder zu beobachten versteht.

Heins Buch ist auch eine Liebeserklärung an seine Eltern, die den Vorzug besitzt, dass die Gegenerklärung längst ausgesprochen ist. Es fällt eher schwer zu glauben, dass es solch paradiesische, scheinbar gänzlich konfliktfreie häusliche Verhältnisse wirklich geben soll.

Allein das Understatement, auf die Etikettierung „Roman“ zu verzichten, muss Erwähnung finden. Viele Autoren benutzen dieses Label für schlichte Tagebuchaufzeichnungen oder völlig wirre und unzusammenhängende Materialsammlungen und Gedankenfragmente. Warum Jakob Hein sein Buch nicht so nennt, muss sein Geheimnis bleiben.

Stattdessen findet ein ganz anderer, recht skurriler Etikettenschwindel statt; das auf dem Cover abgebildete Kleidungsstück ist niemals ein T-Shirt, allenfalls ein Polohemd.

Was man an Jakob Hein am meisten bewundern muss, ist seine Fähigkeit, verschiedene anspruchsvolle Tätigkeiten gleichzeitig ausüben zu können. In der Berliner Vorleseshow Reformbühne, in der er als einer meiner Kollegen mitwirkt, kann ich oft Zeuge dieser Gabe werden. Er gibt fernmündliche Anweisungen für komplizierte Organtransplantationen (im richtigen Leben ist er Arzt an der Charité) durch sein Taschentelefon, gleichzeitig verständigt er sich lediglich mittels seiner Augenbrauen mit Wladimir Kaminer über den nächsten gemeinsamen Besuch in der Moschee, über wichtige PEN-Treffen und politische Entwicklungen, stellt dazu mit Papier und Kuli den Ablaufplan für die Vorstellung, die in drei Minuten beginnt, in einem komplizierten Diagramm zusammen. Mit den Füßen gibt er unter dem Tisch seiner Frau die Zärtlichkeit, für die im Klinikstress oft nicht die Zeit bleibt, wackelt dabei noch mit seinem Kopf, das Scheinwerferlicht reflektiert rhythmisch in seinen Brillengläsern, so kommuniziert er per Morsealphabet mit Henryk M. Broder am anderen Ende des Raumes.

Die Einzelheiten seines Unfalls unterliegen leider der Geheimhaltung, nur so viel darf verraten werden: Jakob Hein wurde im Hertz Institut mit einer hohen Dosis radioaktiv bestrahlt, die DDR erhoffte sich neue Erfolge im Leistungssport. Doch bei Jakob war das Ergebnis nicht geplant, sein Hirn teilte sich unter der Gewalt in zwanzig Kleinhirne auf, die seitdem miteinander kommunizieren und jedes für sich in der Lage wären, Jakob Hein souverän zu steuern.

Nur so ist auch zu erklären, dass Dr. Hein für so viele Nebentätigkeiten Zeit findet, es seien hier noch sein Kleingarten aufgezählt, seine Sammlung seltener Spuckfische, die mehrere Zimmerwände seiner Wohnung mit Aquarien füllt, seine Forschungen über Menstruation in Kenia usw. In Regelstudienzeit hat er sein Studium beendet und ist seitdem Assistenzarzt, was man theoretisch für immer bleiben kann. Doch Hein giert es nach Höherem, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie will er als Nächstes werden. Ob später auch mal Professor, weiß er noch nicht: „Das ist schwierig, man muss unheimlich viel dafür tun und muss viel forschen und Zeugs veröffentlichen.“ Als ob das für ihn eine Hürde wäre. Auf die Frage, ob er sich später einmal ganz dem Leben als Schriftsteller widmen wolle, meint er: „Ich mag meinen Beruf sehr, das ist aber mein Beruf. Das Schreiben habe ich mir nicht ausgesucht.“

Jakob Heins wahre Heimat ist der Punk, als Jugendlicher in der DDR schnitt er nachts bei John Peel Iggy Pop, Sex Pistols und Slime mit. Irgendwann hatte er sich sogar mühevoll die Haare gefärbt, doch als sein Vater davon überhaupt nichts bemerkte und seine Mutter ihm begeistert Nasenringe vorschlug, beschritt er diesen Weg nicht weiter bis zum bitteren Ende. Aber da ist er nicht der Einzige, seine Punk-Kumpel von damals sind Anwälte oder Ärzte, Banker, Börsenmakler oder Juniorpartner in einer Consultingfirma.

Jakob Hein: „Mein erstes T-Shirt“. Piper Verlag, München 2001, 149 Seiten, 22 DM – Falko Hennigs Roman „Alles nur geklaut“ erschien im Augsburger Maro Verlag