Meine Reise in den Terror

Wenn anerkannte Regierungen mit Moral nichts anfangen können, warum sollten Zivilisten es tun? Von der Schwierigkeit, eine berühmte Schriftstellerin zu werden und sich trotzdem treu zu bleiben

Wenn ich wirklich glauben könnte, dass die Globalisierung die Antwort auf dieweltweite Armut ist, würde ich ein Haus auf den Bahamas kaufen und Windsurfen lernen

von ARUNDHATI ROY

Bis vor ein paar Jahren hatte ich nicht sehr viel Geld. Mein Buch „Der Gott der kleinen Dinge“ änderte das. Wenn ich heute aus meinem Fenster Delhi betrachte, verändert sich die Stadt vor meinen Augen. Die Autos werden größer, die Tore werden höher, und die Wächter der Reichen in ihren Häusern kriegen Gewehre. Währenddessen werden die Armen in den Ritzen der Stadt wie Läuse gequetscht.

Ich sehe zu, wie mein Buch sich verkauft und mein Bankkonto anschwillt. Mir war, als hätte ich eine Pipeline angezapft, die die Reichen mit dem Reichtum der Welt versorgt und mich mit einem Geldstrom überschwemmt, der mich mit seiner Schnelligkeit und Stärke verletzt. Mir war, als sei jedes Gefühl in meinem Buch in Silberlinge eingewechselt worden und als ob ich eine kleine Silberfigur mit einem kalten Silberherz werden würde, wenn ich nicht aufpasse.

Ich sehe jetzt klar, wie in der Welt von heute die Reichen mühelos reicher und die Armen ärmer werden. Ich sehe, wie leicht es für das oberste Prozent der Welt ist, so viel Einkommen zu haben wie die unteren 57 Prozent.

Ich will etwas dazu sagen, wie ich dazu kam, mich mit den Dingen zu beschäftigen, die mich heute umtreiben. 1998, kurz nachdem ich den Booker Prize gewann, kam in Indien eine neue Koalitionsregierung unter Führung der rechtsgerichteten hindu-chauvinistischen BJP [Bharatiya Janata Party – Indische Volkspartei, d. Red] an die Macht. Als Erstes führte sie eine Reihe von Atomtests durch und erklärte, Indien sei jetzt Atommacht. Unweigerlich antwortete Pakistan darauf wenige Tage später mit eigenen Tests. Innerhalb eines Jahres waren Indien und Pakistan miteinander im Krieg. Heute ist die Aussicht auf einen Atomkrieg realer denn je. Die Atomtests führen zu einer nationalistischen Rhetorik, die einem kalt den Rücken herunterläuft, zu borniertem religiösem Fundamentalismus der schlimmsten Sorte. In Indien war es Hindu-Fundamentalismus, in Pakistan islamischer Fundamentalismus. Für die von uns, die täglich mit dem Gespenst religiöser Borniertheit leben, ist es sonnenklar, dass derselbe tödliche Motor von Hass und Intoleranz religiöse Eiferer antreibt. Als Frau fürchte ich nichts mehr, als unter einem fundamentalistischen religiösen Regime zu leben.

Damals erkannte ich, dass nichts zu sagen ein genauso politischer Akt ist wie etwas zu sagen. Ich schrieb meine erste politische Schrift „The End of Imagination“ – ein Protest gegen Atomwaffen. Ich schrieb es als Schriftstellerin, als Mensch, nicht als Strategin oder Analytikerin. Ich habe eine moralische Position gegen Massenvernichtungswaffen. Ich glaube, dass ihr Besitz und die Drohung ihres Einsatzes ein terroristischer Akt von Regierungen gegen die Menschen der Welt sind. Ich schrieb: „Wenn es antiindisch oder antihinduistisch ist, gegen Atomwaffen zu protestieren, spalte ich mich ab. Ich erkläre mich hiermit zu einer eigenen Republik. Ich besitze kein Territorium, ich habe keine Flagge.“

Erwartungsgemäß änderte sich mein Status von einem Tag auf den anderen. Ich war jetzt gegen die Nation, gegen Indien, eine CIA-Agentin und so weiter. Unweigerlich begab ich mich auf eine Reise in das Herz dessen, was ich für die größte politische Frage unserer Zeit halte. Ich habe dabei die außergewöhnlichsten Leute getroffen und an den außergewöhnlichsten Ereignissen teilgenommen. Ich habe über Fragen der Entwicklung geschrieben, über die unaufhaltsame Tragödie der großen Staudämme, über die Politik der Entwicklungshilfe, über die Auswirkungen der Globalisierung von Firmen und der Privatisierung lebensnotwendiger Infrastruktur wie Strom- und Wasserversorgung auf die Armen. Meine letzten Texte sind zwei Essays, „Wut ist der Schlüssel“ und „Krieg ist Frieden“ – Betrachtungen über die Terrorschläge vom 11. September und den Krieg gegen Afghanistan.

Ich gehöre keiner politischen Bewegung an. Ich starte jede Untersuchung mit so wenig Gepäck wie möglich. Jede Untersuchung beginnt mit Neugier auf etwas, was mir als Ungerechtigkeit oder Menschenrechtsverletzung erscheint. Ich strebe nicht an, eine Ideologin zu werden. Jeder meines Essays wurde aus mir herausgepresst, vielleicht weil ich genetisch programmiert bin zu schreiben, meine Meinung auszudrücken, auch wenn ich genau weiß, dass es klüger und für mich vorteilhafter wäre, den Mund zu halten.

Meistens merke ich nach Abschluss meiner Untersuchung, dass meine Ansicht sich nicht mit der etablierten Weltsicht deckt. Also habe ich gelernt, mich jedesmal auf Beschimpfungen und Belächelungen vorzubereiten und jetzt sogar auf die Aussicht einer Haftstrafe wegen Missachtung des Gerichts. Nach jeder Expedition verspreche ich mir, dass es die letzte war.

Meine wirkliche Tragödie besteht darin, dass meine Rettung darin läge, widerlegt zu werden. Wenn ich glauben könnte, dass der Bau großer Staudämme mit der Vertreibung von über 30 Millionen Menschen eine Form von Entwicklung darstellt; dass die Rettung der Menschheit im Ansammeln von Atomwaffen in jedem Land bestünde; dass die Globalisierung der Unternehmen die Antwort auf die weltweite Armut ist; dass die Bombardierung von Afghanistan den Terrorismus auslöscht – ich würde das Geld nehmen, ein Haus auf den Bahamas kaufen und Windsurfen lernen.

Mir ist durchaus bewusst, dass viele Menschen überhaupt nicht meiner Meinung sind. Dieser Preis wurde viele Monate vor den schrecklichen Ereignissen des 11. September und der nachfolgenden Polarisierung der Weltöffentlichkeit angekündigt. Ich bot der Akademie an, mich von dem Preis zurückzuziehen. Mein Angebot wurde abgelehnt.

Vor ein paar Tagen gab es in Delhi ein hochrangiges Treffen zum Krieg in Afghanistan. Ein ehemaliger Außenminister hatte es einberufen, und Mitglieder des diplomatischen Dienstes, der Armee, der Polizei und Botschafter nahmen daran teil. Ich war nicht da, aber Teilnehmer haben mir davon erzählt. Der ehemalige Außenminister kritisierte den US-Krieg gegen Afghanistan aus strategischen Gründen. Er meinte aber, die Zeit sei für Indien gekommen, Pakistan als Antwort auf seinen grenzüberschreitenden Terrorismus in Kaschmir anzugreifen. Nach seiner Rede fragte ihn ein Zuhörer, was er von Arundhati Roys Vorschlag hält, dass jetzt die Zeit für Ehrlichkeit und Zurückhaltung gekommen sei, nicht für Krieg. Er antwortete: „Jemand sollte Arundhati Roy sagen, dass schöne Worte keine Gedanken ersetzen. Und dass in der Diplomatie kein Platz für Moral ist.“

Jemand anders fragte ihn nach den Risiken der Eskalation eines Krieges gegen Pakistan in eine atomare Konfrontation, über die Möglichkeit, dass Delhi oder Bombay ausradiert werden könnten. Seine Antwort war: Leute, die denken, dass sie einer großen Zivilisation entstammen, sollten bereit sein zu leiden. Da haben wir’s. Hegemonie ist wichtiger als Überleben. Aber wenn anerkannte Regierungen mit Moral nichts anfangen können, warum sollten Zivilisten es tun? Warum sollten die Taliban es tun? Der Kampf für Toleranz, gegen Hegemonie jeglicher Art, religiöse, militärische, ökonomische, kulturelle – das ist heute die größte Herausforderung der Menschheit.

Ich möchte kurz über Terrorismus reden. Terrorismus ist das Symptom und nicht die Krankheit. Ich glaube, jede Regierung, die gegen den Terrorismus ist, muss das Prinzip der Gewaltfreiheit hoch halten. Sie muss vernünftigen, gewaltlosen Widerspruch respektieren. Sie muss zeigen, dass sie Frühwarnungen von Leiden wahrnimmt.

Wir können den Terrorismus nicht bekämpfen, indem wir uns an ihm beteiligen. Auf einen terroristischen Akt mit einem kriegerischen Akt zu antworten, bedeutet in einer seltsamen Weise, ihn zu ehren. Ein Journalist, der vor kurzem Ussama Bin Laden interviewte, berichtete, er sei glücklich, gesund, wohlgenährt. Er wartet darauf, getötet zu werden, Märtyrer zu werden. Er wartet darauf, angebetet zu werden. Hätte er die Folgen der Angriffe vom 11. September selbst geplant – er hätte es nicht besser machen können. Der schreckliche Preis, den das Volk Afghanistans zahlt, scheint ihn wenig zu kümmern. Aber er muss uns kümmern – wir, die wir keine Terroristen sind.

Ich widme diesen Preis allen Namenlosen und Gesichtslosen, aus denen gewaltfreie Widerstandsbewegungen sich in der ganzen Welt zusammensetzen. Ich bin mit mehreren von ihnen in Indien in Kontakt. Dieses Geld wird sie unterstützen, so unauffällig wie möglich. Aber vor allem soll es ihre Hartnäckigkeit honorieren und ihre Weigerung, selbst angesichts extremer Provokation zu den Waffen zu greifen.

Ich bin nicht gegen den Krieg in Afghanistan, weil ich vom Wesen her antiamerikanisch oder für die Taliban bin, sondern weil ich grundsätzlich gegen Gewalt bin. Ich glaube nicht, dass Krieg Terrorismus auslöschen kann. Ich glaube, er wird das Gegenteil bewirken. Ich bin gegen den Krieg, weil Millionen normaler Menschen, die keine Terroristen und keine Fundamentalisten sind, sondern die seit zwanzig Jahren einen brutalen Krieg ausgehalten haben, in der bitteren Winterkälte der afghanischen Berge langsam zu verhungern drohen.

Wie lobenswert die Ziele des Westens sein mögen – das Ergebnis könnte ein Genozid sein. Das wissen wir. Wenn wir später die Toten zählen, können wir nicht so tun, als seien das Kollateralschäden. Der amerikanische Präsident hat gesagt: Ihr seid entweder mit uns oder mit den Terroristen. Dieses Paradigma akzeptiere ich nicht. Ich glaube, dass die ganze Schönheit der menschlichen Zivilisation, unsere Kunst, unsere Musik, unsere Literatur, sich solcher fundamentalistischen Positionen entzieht.

Dies ist eine leicht gekürzte Version der Rede, die Arundhati Roy am 12. November in Paris bei der Entgegennahme des Grand Prix 2001 der Académie Universelle des Cultures hielt. Sie ist die zweite Trägerin dieses mit rund 150.000 DM dotierten Preises der von Eli Wiesel gegründeten Akademie, mit dem diese den Kampf gegen Intoleranz, Rassismus und Diskriminierung ehrt. Im Jahr 2000 ging der Preis an Václav Havel. Aus dem Englischen von Dominic Johnson