Leben und morden lassen

In der moralischen Mausefalle: Das Theaterstück „Boombar“ in den Sophiensaelen versetzt Dürrenmatts Tragikomödie vom „Besuch der alten Dame“ in die Gegenwart

Guido ist ein Durchschnittsmensch mit beschränkten Träumen: Das Jetzt ist ihm alles. Bis alles nichts mehr ist. Denn die Dame Babs, seine Ex, will Rache für erlittenes Unrecht. Sie bietet seinen lauen Freunden Bares für eine Gefälligkeit: Wenn sein Kopf rollt, erhöht sie den Kontostand.

Das ist die moralische Zwickmühle, die Friedrich Dürrenmatt mit seiner tragischen Komödie „Der Besuch der alten Dame“ 1956 zu Weltruhm verholfen hat. Die junge Autorin Gila von Beh hat den Klassiker bearbeitet und „Boombar“ genannt. In der Inszenierung von Lubricat, der renommierten Freien Gruppe unter der Leitung von Dirk Cieslak, ist daraus eine komische Tragödie geworden. Denn während Dürrenmatt den angeblich gemeinsamen moralischen Horizont noch als korrumpierbar geißeln konnte, glaubt heute keiner mehr an eine tragfähige und verbindliche Ethik. Entschieden wird je nach Interessenlage und (Welt-) Situation. Die Ereignisse am und seit dem 11. September zeigen: Wir wissen nicht genau, was wir tun, aber wir tun es in voller Überzeugung.

Der Abend nimmt darauf Bezug, wenn die Dame Babs (wunderbar: Barbara Spitz) ihr Ansinnen mit dem Wiederherstellen von Gerechtigkeit begründet. Diese furchtbar freundliche Furie entspringt mehr Dürrenmatts zweitem Anlauf, unsere nicht vorhandene ethische Basis in ein Gleichnis zu bringen. Fünfundzwanzig Jahre später hat der Schweizer mit „Mondfinsternis“ die aktuelle Variante der „alten Dame“ geliefert. Moral ist hier bereits zur Fußnote verkommen und alles auf eine tödliche Formel reduziert: „Will man leben, will man auch morden.“

Cieslak stellt seine acht Figuren vor eine lange weiße Wand und zwischen Wartebänke. Sie ironisieren und zitieren Gesten der Gegenwart, vom politischen Beschwichtigungsduktus bis zur Pseudobetroffenheit. Alle Figuren changieren zwischen Typus und Charakter. Mal flanieren sie frei durch Themen der Zeit, dann werden sie wieder als psychologisch motivierte Rollenträger sichtbar: Auch das hat Gleichnischarakter. Am Ende spricht der Geist der alten Dame (Ruth Diel) von der Ungültigkeit dieses Bühnenspiels. Das Zappeln in der moralischen Mausefalle könnte wieder beginnen. DIRK PILZ

Nächste Aufführungen vom 14.–18. November, 20 Uhr, Sophiensaele, Sophienstraße 18. Karten unter Tel. 283 52 67. Eintritt 25, erm. 15 Mark