Schwarz hat keine Antworten

Die dunkelste Farbe war einst und ist noch immer das Markenzeichen der Konservativen. Aber was wissen die noch von Bewahrung, wo selbst der Fraktionsvorsitzende der Union kein deutscher Konservativer mehr sein mag?

von BETTINA GAUS

Hat der Konservatismus in Deutschland ein Gesicht? Wenn ja: wessen? Das von Angela Merkel? Von Friedrich Merz? Von Edmund Stoiber? Wohl kaum. Nicht einmal Helmut Kohl ist – trotz Bitburg und geistig-moralischer Wende – jemals mit dem deutschen Konservatismus identifiziert worden, und Ludwig Erhard, der Vater der sozialen Marktwirtschaft, schon gar nicht.

Wer Konservatismus nicht für gleichbedeutend hält mit Reaktion oder gar mit Rechtsextremismus, dem fallen auf Anhieb meist die Namen von nur zwei Politikern ein, die ihn in Deutschland verkörpert haben: Otto von Bismarck und Konrad Adenauer. Beide sind schon ziemlich lange tot. Vielleicht muss das Gesicht des Konservatismus heute eben an ganz anderen Orten als früher gesucht werden. Vielleicht trägt er heute die Züge des grünen Außenministers Joschka Fischer.

Der würde das gewiss vehement bestreiten. Als Konservativer zu gelten, ist schon lange nicht mehr populär. Niemand hat das der Öffentlichkeit vergleichbar eindrucksvoll vor Augen geführt wie ausgerechnet Friedrich Merz, der Fraktionsvorsitzende der Union. Er war es, der sich im Zusammenhang mit der Debatte um die Leitkultur im Bundestag ausdrücklich verbeten hat, ihn und seine Fraktionskollegen als „deutsche Konservative“ zu bezeichnen. CDU und CSU seien die Parteien der Mitte. Ein Konservativer hält diese Kennzeichnung selbst für ein Schimpfwort! Wenn das nicht der endgültige Sieg der Linken ist!

Natürlich ist er das nicht. Wer unwidersprochen ein Linker genannt werden darf, gewinnt in der Bundesrepublik ebenfalls schon lange keine Mehrheit mehr – und das gilt nicht erst seit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Mauer 1989. Schon vor mehr als vierzig Jahren schrieb Marion Gräfin Dönhoff in der Zeit, eine „tüchtige Regierung, die Sicherheit und Wohlstand und eine kontinuierliche Entwicklung“ biete, sei überall in der heutigen Industriegesellschaft „weit wichtiger als eine, die ideologische Ziele verwirklicht. So findet stetig der Prozess einer Einebnung der klassischen Ideologien und parteipolitischen Programme statt: Alle bemühen sich, zugleich liberal, sozial und auch konservativ zu sein.“

Schön wär’s. Es mag bis zu einem gewissen Grad in der Zeit des Wettstreits der Systeme in jenem Teil der industrialisierten Welt gegolten haben, in dem Parteien bei der Bevölkerung um Zustimmung für konkurrierende Politikmodelle kämpfen mussten. Vergangenheit aber ist das, spätestens seit es zum Kapitalismus keine realistische Alternative mehr zu geben scheint. Seither verliert das soziale Element der Politik beständig an Bedeutung.

In den Neunzigerjahren übernahmen sozialdemokratische Regierungen in einem Land nach dem anderen die Macht. Und was taten sie, kaum dass sie dieses Ziel erreicht hatten? Sie privatisierten öffentliche Unternehmen, kürzten die Leistungen des Wohlfahrtstaates und propagierten die Eigenverantwortlichkeit des Individuums. Machten also konservative Politik.

Manche Sicherheitspakete, die infolge der jüngsten Terroranschläge geschnürt worden sind, legen den Verdacht nahe, dass sozialdemokratische Minister auch für den Leviathan zu gewinnen sind, wenn ihnen sonst nichts mehr einfällt. Der Konservatismus hat heutzutage, wie Jürgen Kaube kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu Recht schrieb, „Gegner, die ihm keine mehr sein wollen“.

Warum will sich dann ausgerechnet heute kaum noch jemand zu einer konservativen Grundhaltung bekennen? Warum profitieren die Schwarzen nicht vom Ruck der Gesellschaft nach rechts? Drei Faktoren sind es vor allem, die ihre Krise begründen – neben tagesaktuellen Problemen, Affären und personalpolitischen Querelen, die allesamt eher als Ausdruck dieser Krise denn als ihre Ursache zu sehen sind.

Zum einen gehört es zu den Grundelementen konservativen Denkens, politische Theorien grundsätzlich skeptisch zu betrachten und den eigenen Kurs so weit wie irgend möglich aus der Praxis heraus zu begründen. Das macht die Rolle einer Oppositionspartei für Konservative so schwierig.

Eine Opposition braucht ein überzeugendes Programm dringender als eine Regierung, die unter günstigen Umständen allein durch ihr Handeln überzeugen kann. Konservative aber stehen Grundsätzen erheblich misstrauischer gegenüber als ihre traditionellen Gegenspieler, die Sozialisten und die Liberalen.

Diese These scheint auf den ersten Blick dem vertrauten Bild der Konservativen zu widersprechen. Stehen nicht gerade sie für althergebrachte Werte und den Kampf für deren Fortbestand? Haben sie nicht auch stets die angestammte Position jedweder Autorität und Obrigkeit zäh verteidigt? Haben sie nicht überhaupt immer alles Bestehende verteidigt, solange es irgend möglich war? Gewiss. Und doch hat sich in der Geschichte keine andere Geisteshaltung als so flexibel erwiesen wie die der Konservativen.

Was haben diese nicht alles überwunden – ohne sich je selbst grundsätzlich infrage zu stellen: ihre Bejahung von Monarchie und Ständegesellschaft, ihre antikapitalistischen und sogar technikfeindlichen Ursprünge, bis zu einem gewissen Grad selbst ihre Überzeugung von der natürlichen Ungleichheit der Menschen. Zumindest wird diese Überzeugung heute allenfalls noch hinter vorgehaltener Hand oder in seltenen Ausnahmefällen wie bei der Forderung nach der Einrichtung von Eliteuniversitäten eingestanden.

Die Wandlungsfähigkeit war gestaltendes Element und Voraussetzung der Geschichte des Konservatismus, der sich als ablehnende Reaktion auf Französische Revolution und Aufklärung konstituierte. Als Reaktion – nicht als Wille zur eigenständigen Gestaltung der Moderne. Fast nirgendwo haben sich Konservative als erste Partei organisiert. In der Regel definierten sie sich erst dann als politische Vereinigung, wenn sie keinen anderen Weg mehr sahen, um neuen Herausforderungen wie dem Liberalismus und dem Sozialismus zu begegnen.

Was für die organisatorische Struktur galt, traf auch für die praktische Politik zu. Die Einführung der Sozialversicherung durch Otto von Bismarck steht nicht im Widerspruch zu seinen Sozialistengesetzen. Die beiden Maßnahmen waren lediglich die beiden entgegengesetzten Seiten derselben Medaille, und sie dienten demselben Ziel: der erstarkenden linken Arbeiterbewegung das Rückgrat zu brechen. Dass die eine Maßnahme im historischen Rückblick dabei – zunächst – unvergleichlich viel erfolgreicher war als die andere, hatte Bismarck nicht vorhersehen können.

Längst nicht mehr funktioniert diese Dialektik des Konservatismus, auch wenn die Dauer der Regierungszeit von Helmut Kohl das überdeckt hat. Die Ursache dafür ist zugleich der zweite Grund für die gegenwärtige Krise der CDU – und sie dürfte noch erheblich schwerer zu überwinden sein als die Not bei der Suche nach einem überzeugenden Oppositionsprogramm: Es ist den im landläufigen Sprachgebrauch als konservativ bezeichneten Parteien bislang nicht gelungen, eine standfeste Position im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne zu finden.

Der CSU-Slogan vom Laptop und der Lederhose ist zwar gut formuliert, trägt aber nicht weit. Anders als der bayerischen Schwesterpartei ist der CDU bislang nicht einmal ein hübscher Werbespruch eingefallen. Seit Mitte der Achtzigerjahre sei „die zeitgemäße Weiterentwicklung des Profils eines aufgeklärten Konservatismus“ versäumt worden, meint der Historiker Paul Nolte, der für möglich hält, „dass ehemals konservative Begriffe und Denklinien sich inzwischen in intellektuellen Diskursen und politischen Bewegungen wiederfinden, die wir gewöhnlich dem linken Lager zurechnen“.

Gemeint sind Themen, die seinerzeit zur Gründung der Grünen geführt haben – und die der jungen Partei jahrelang sichere Stimmenzuwächse bescherten: wachsende Skepsis gegenüber unkritischer Fortschrittsgläubigkeit, die Furcht vor einer drohenden Zerstörung der Umwelt und die Einsicht in die Notwendigkeit, das Verhältnis von Mensch und Natur vor dem Hintergrund sich verknappender Ressourcen neu zu definieren.

Diese Sicht auf die Welt ist eigentlich eine – im traditionellen Sinne – konservative. Es ist kein Zufall, dass sich plötzlich auch Linke als „wertkonservativ“ definierten. Die CDU konnte jedoch aus der Anziehungskraft dieser alten, neuen Fragen keinen Nutzen ziehen. Das lag zum einen daran, dass sie – übrigens weit radikaler als die CSU – spätestens seit Ludwig Erhard alle noch verbliebenen Reste ihrer ursprünglichen Kapitalismuskritik abgeschüttelt und längst zu einem fundamentalistischen Glauben an die Segnungen der freien Marktwirtschaft gefunden hatte. Es lag aber auch daran, dass sie zu schwerfällig war, um den emanzipatorischen Forderungen der sozialen Bewegungen anders als abwehrend zu begegnen.

Der Charme der Partei der Grünen bestand darin, wesentliche Elemente eines konservativen Weltbildes mit den Grundsätzen des liberalen Individualismus in Einklang gebracht zu haben. Seit einigen Jahren verblasst dieser Charme – aber nicht etwa deshalb, weil die Grünen sich mit den falschen Fragen beschäftigten, sondern weil die Glaubwürdigkeit ihrer Antworten in immer stärkerem Maße bezweifelt wird. Die Fragen sind jedoch aktuell geblieben. Die CDU aber steht ihnen bis heute ohne grundsätzliche Orientierung gegenüber.

Dafür gibt es einen Grund, und dieser Grund dürfte die dritte und zugleich am schwersten zu bekämpfende Ursache für die Krise des Konservatismus in Deutschland sein. Das wachsende Maß der Ausdifferenzierung und der Individualisierung der Gesellschaft hat im Verbund mit dem Prozess der Globalisierung die Konservativen dessen beraubt, was ungeachtet allen Wandels der Einstellungen stets ihr kleinster gemeinsamer Nenner war: der Wunsch, das Bestehende zu bewahren, und die feste Überzeugung, der Gemeinschaft als solcher komme ein hoher Stellenwert zu.

Was aber ist heute das Bestehende? Und was die „Gemeinschaft“? Der Staat? Das Volk? Die Bevölkerung? Die Gesellschaft? Europa? Auch früher gehörten alle Einzelnen jeweils verschiedenen Gemeinschaften an, aber sie waren klar voneinander abgegrenzt, eindeutig definiert und ließen sich hierarchisch gliedern. Das erleichterte die Zuweisung von Verantwortlichkeiten und die Festsetzung von Prioritäten. Diese überschaubaren Zeiten sind vorbei.

Inzwischen lässt sich nicht einmal mehr präzise umreißen, was genau unter der einst als „Keimzelle des Staates“ bezeichneten kleinsten Einheit einer Gemeinschaft eigentlich zu verstehen ist: der Familie.

Am propagierten Idealbild der Konservativen hat sich bislang zwar nichts geändert, wie Pressefotos beweisen, die Friedrich Merz im Kreise seiner Lieben bei der Hausmusik zeigen. Aber mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit hat die biedermeierlich anmutende Idylle schon lange nichts mehr zu tun.

Auch CSU-Wählerinnen sind allein stehend und kinderlos. Auch CDU-Politiker sind schwul. Jede dritte Ehe wird geschieden. Die Zahl der Kinder, die mit ihren beiden biologischen Elternteilen zusammenleben, sinkt. Wie kann vor diesem Hintergrund eine konservative Familienpolitik aussehen, die mehr ist als eine gemeinsame Verneinung der Realität? Wer immer darauf eine Antwort hat: Die Schwarzen sind es offenkundig nicht.

In nahezu allen Lebensbereichen ist die Akzeptanz wechselnder Bindungen an die Stelle der lebenslangen Zugehörigkeit zu fest gefügten Gemeinschaften getreten. Von Arbeitnehmern werden Flexibilität und die Bereitschaft zur Mobilität verlangt. Die meisten sind nicht mehr in Familienunternehmen beschäftigt, sondern bei internationalen Großkonzernen, deren Verflechtungen schwer zu durchschauen sind und die sich häufig ändern. Zur Verbesserung der individuellen Wettbewerbsfähigkeit gehört die Kenntnis von Fremdsprachen, zur nationalstaatlichen die Anwerbung ausländischer Spezialisten. Was ist vor diesem Hintergrund das Bestehende, das es zu bewahren gilt?

Auch die politischen und gesellschaftlichen werden neben den ökonomischen Machtverhältnissen für den Einzelnen immer schwerer durchschaubar. Ironischerweise war es ausgerechnet ein besonders bodenständiger CDU-Politiker – der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl –, der die europäische Einigung wie kein anderer vorangetrieben hat: auch und vor allem aus der Erkenntnis heraus, dass vielen Herausforderungen der Gegenwart auf nationalstaatlicher Ebene allein nicht mehr zu begegnen ist. Je größer aber eine Gemeinschaft wird, desto diffuser wird sie auch – und desto weniger taugt sie als Integrationsinstrument für eine politische Bewegung.

Bislang ist nicht zu erkennen, wie die Schwarzen aus der Vielzahl von Sackgassen herausfinden wollen, in denen sie gegenwärtig umherirren. Ihre politischen Gegner haben in diesem Zusammenhang allerdings eher Grund zur Sorge als zur Freude: Eine ernste Krise des Konservatismus droht stets vor allem eine Bewegung zu stärken – die Reaktion.

BETTINA GAUS, Jahrgang 1956, bis 1998 taz-Parlamentsbüroleiterin in Bonn, ist politische Korrespondentin der taz und lebt in Berlin. Sie schrieb das Buch „Die scheinheilige Republik“, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart/München 2000, 183 Seiten, 34 Mark