Das Gegenbild zur Ruine

Notizen eines Literatur lesenden Amerikareisenden – dritte Station: New York. Boomender Ground-Zero-Tourismus

Vom Hotel aus laufe ich durch den Central Park zum Goethe-Institut, vorbei an einer eingezäunten Grünfläche, die zur Ausübung verschiedener Sportarten genutzt wird, aber auch ausdrücklich, wie mehrere Schilder versichern, zum Sonnenbaden, Lesen und Tagträumen da ist. Die Luft im Central Park ist klar und frisch, einige ältere Herren rechen und pusten Laub zusammen, und ich habe eine Songzeile im Ohr. Da ich mich nicht erinnere, wie der Text des Liedes vor und nach der Zeile geht, wiederhole ich sie immer wieder und summe den Rest.

Looking down on Central Park, geht die Zeile, und ich denke, wow, hier haben Simon & Garfunkel dieses Konzert gegeben, das mein Bruder, als ich noch ein Kind war, auf Kassette hatte, und auch wenn ich nicht einmal mehr den Titel des Liedes weiß, so erinnere ich mich doch, dass das Publikum bei dem Wort „Central Park“ in zehntausend-, vielleicht auch hunderttausendfachen Jubel ausbricht. Dies ist außerdem der Ort, an dem „Hair“ spielt, und der Ort, an dem Patrick Bateman in „American Psycho“ den Hund tötet.

Die Leiterin des Goethe-Instituts betont, es sei für die New Yorker in diesen Tagen sehr wichtig und werde stets als Zeichen der Solidarität empfunden, wenn Ausländer ihre Stadt nicht mieden, sondern trotz allem kämen. Das schmeichelt und rückt unsere Tour in ein Licht größerer Wichtigkeit, als sie sie nüchtern betrachtet vermutlich besitzt.

Nach der Besprechung treffe ich mich mit Mahsa, einer alten Freundin aus Teheran, die seit einem halben Jahr in New York wohnt. Als ich sie bitte, mich zu Ground Zero zu bringen, muss sie lachen und meint, sie habe befürchtet, dass ich das sagen würde. Ich muss auch lachen, es ist mir peinlich, gleichzeitig weiß ich, dass es keinen anderen Ort gibt, den ich an diesem einzigen Tag, den ich in New York verbringen werde, dringender aufsuchen möchte. Denn an jedem anderen Ort würde ich lediglich nachdenken darüber, wie es wohl am Ground Zero aussieht.

Da Mahsa die Straßen in downtown Manhattan noch nicht hundertprozentig kennt, fragen wir nach dem Weg, einigen uns aber darauf, nicht nach Ground Zero, sondern nach der benachbarten Kirche zu fragen, obwohl so natürlich auch jeder weiß, was wir sehen wollen. Und schließlich laufen wir direkt auf das Loch in der Skyline zu, das ich nicht sehen kann, weil ich es nie für nötig gehalten hatte, mir die Skyline von New York einzuprägen. Wir laufen durch diese Straße, in der das Foto geschossen wurde, das wir seit dem 11. September hunderte von Malen in den Zeitungen gesehen haben: ein Mann Mitte dreißig rennt mit angstverzerrtem Gesicht und wehender Krawatte die Straße hinab, hinter ihm andere panische Menschen, und hinter allen die gigantische braune Wolke, die sich in die Straßenschlucht wälzt. Die Straße ist wieder sauber, Panik ist keine zu spüren, Menschen strömen in die Läden und kommen mit Tüten wieder heraus, alles wirkt normal, nur der mittlerweile berühmte Geruch deutet auf das Geschehene hin, und plötzlich geht es nicht weiter. Eine übermannshohe grüne Absperrung blockiert den Weg und die Sicht. Wir können nichts sehen als die grüne Absperrung und die daran befestigten Plakate, auf denen die Masse der Ground-Zero-Touristen, in der wir stehen, ihre Gedanken hinterlässt.

Wir gehen an der Absperrung entlang, bis wir in eine Seitenstraße einbiegen und uns dem Ort von einer anderen Seite nähern können. An einigen Stellen haben Touristen Löcher in den Sichtschutz geschnitten, vor denen nun kleine Schlangen von Leuten stehen, die einen Blick auf die Trümmer erhaschen wollen. Einige zwängen die Objektive ihrer Kameras durch die Schlitze. Ich fotografiere die Fotografen. Wir wollen schon wieder umdrehen, als uns plötzlich ein indischer Besucher darauf hinweist, dass man fünfzig Meter weiter einen sehr guten Blick auf die Ruine habe.

Was wir dort sehen, ist tatsächlich der verkohlte Stumpf des World Trade Centers. Doch das Seltsame ist: Das Entsetzen bleibt aus. Das reale Bild der Ruine bleibt in seiner Wirkung weit hinter den schockierenden Fernsehbildern zurück. Wieder sehe ich unzählige Fotografen, und ich weiß auf einmal nicht mehr, warum man die Ruine fotografiert, und ich denke, das typische Bild von Ground Zero ist nicht die Ruine, sondern sind die Fotografen.

Und mir wird klar, dass die Bombardierung Afghanistans nichts ist als die Produzierung von Gegenbildern und dass Bush Ussama Bin Laden oder irgendjemand so lange jagen wird, bis er uns das Bild präsentieren kann, das stark genug ist, um die zerstörten Twin Towers zu überdecken. Zurück im Goethe-Institut sage ich, dass ich nicht zur nächsten Station nach Toronto fliegen will. Die Alternative sind zwölf Stunden Grey Hound Bus. „Gut“, sage ich, „dann denke ich noch mal nach.“ TOBIAS HÜLSWITT