Spuren der Fabrikation

Viele Wirklichkeiten können nicht wahr sein: Das Off-Theater-Festival „Impulse“ zeigt zum zehnten Mal das Beste aus der freien Szene. Charmante Täuschungen und nur eine ärgerliche Authentizität

Die Unwahrheiten irgendwo ausprobieren, bevor man sie ernst nimmt

von MORTEN KANSTEINER

Wenn links eine Leinwand die Bühne abschließt und rechts vier Monitore dagegenhalten, dann steckt in den Medien zweifellos eine Botschaft: dass es nämlich der Wirklichkeiten viele gibt. Mit diesen Apparaturen bekommt der Schauspielerkörper Konkurrenz. In seiner Adaption von „Macbeth“ kann Michael Habelitz noch so wuchtig als Königsmörder wüten – sein Schweiß ist nie die ganze Wahrheit. Macbeth weiß das selbst ganz gut: Um die Weissagungen über seinen Aufstieg zu überprüfen, schaltet er die Fernseher ein.

Wenn das Theater – wie dieser „Macbeth“ beim Off-Theater-Treffen „Impulse“ – mehrere Wirklichkeiten bietet, können streng genommen nicht alle wahr sein. Dann wird unübersehbar: „Theater ist eine verlogene Anstalt.“ Und das meinte Christoph Schlingensief, als er diesen Slogan bei einer Diskussion während des Festivals anbrachte, durchaus als Kompliment. Irgendwo müssen die Unwahrheiten ja ausprobiert werden, bevor sie jemand ernst nimmt.

Was das freie Theater noch von durchschnittlichen Stadttheatern unterscheidet, ist womöglich die Bereitwilligkeit, mit der es seine Veranlagung zur Lüge zugibt. Die zehnte Ausgabe der „Impulse“, die am Samstag nach gut 40 Vorstellungen in Köln, Düsseldorf, Mülheim und Bochum zu Ende geht, zeigt wenig Welten mit Wahrheitsanspruch. Die meisten Produktionen offenbaren die Spuren ihrer Fabrikation und verschachteln demonstrativ Wirklichkeiten.

Dazu braucht es keine Monitore. Corinne Rusch hat für die Zürcher Produktion „Der zweite Sonntag im Mai“ eine multimediale Apparatur aus Gerüsten und Plattformen gebaut. In der Mitte eine Alltagsperspektive: eine Wohnmulde mit Tisch, Herd, WC etc. Hier lebt Frau Keller, deren Bewegungen Annalisa Derossi mit der berührenden Unmenschlichkeit einer Marionette ausführt. Ihre unsichtbaren Fäden verbinden sie mit der zweiten Welt: ihrem Hirn. Rund um die Kellerwohnung hasten und klettern die übrigen Schauspieler in den Rollen von Synapsen und Transmittern. Die müssen eigentlich Träume und Erinnerungen organisieren, aber gebärden sich wie die Belegschaft einer Science-Fiction-Soap. Entsprechend sind ihre Kabale und Liebe mitunter fad. Aber in den schwachen Momenten bieten Inszenierung und Text – beide von Barbara-David Brüesch – immer noch das Nebeneinander der Wirklichkeiten. Bis zuletzt lässt sich danach forschen, wer die Fäden letztlich in der Hand hat.

Das hat der „Zweite Sonntag“ jenen Produktionen voraus, die sich nicht für die Message des Mediums interessieren, sondern ganz der Botschaft einer Vorlage widmen. Etwa „Die Brüder Grimm“, ein brav biografisches Projekt gestandener Theatermenschen aus Bremen und Oberbayern. Oder selbst „Die Schaukel“ des Jungen Theater Basel, ein Stück über eine Vergewaltigung: Präzise attackiert die Autorin Edna Mazya patriarchalische Gewalt, Sebastian Nübling inszeniert geballte Körperlichkeit, aber der Abend leidet doch an seiner Eindeutigkeit. Daran krankt auch Catharina von Siena, Mystikerin und Titelheldin eines Dramenfragments von Jakob Michael Reinhold Lenz. Unter der Regie von Thorsten Lensing stellt sie sich schnell als selbstverliebte Hysterikerin heraus, deren Exaltationen man den Rest des Abends ertragen muss. Nur einmal beruhigt sie sich, tritt an die Rampe und hebt zu Poesie an. Man ahnt: Jetzt kommt’s authentisch. Unversehens stellt sich das Verlangen nach einer charmanten kleinen Lüge ein.

Zwei der gelungensten Produktionen des Festivalprogramms – zu dem im Übrigen noch eine Performance mit Zwillingen von Angie Hiesl und ein Kleistgeschnetzeltes mit Gummitieren von Manfred Meihöfer gehören – erfüllen gerade dieses Bedürfnis: Sowohl Gil Mehmert als auch Sibylle Broll-Pape haben transparente, luftige Illusionen inszeniert. Die Bochumerin Broll-Pape verwendet dafür „Die Arabische Nacht“ von Roland Schimmelpfennig, ein Drama wundersamer Wandlungen. Da landet etwa ein Hausmeister samt Stromprüfer in einer Märchenwüste. Auf der Bühne gelingt das so leicht wie im Text, ein Pfeifen und ein Rechteck gelben Lichts genügen. Die Schauspieler wechseln behende zwischen Dialogen und der Rede Richtung Publikum, in einem beständigen und amüsanten Widerstreit von Mimesis und Narration.

Beide Modi nutzt auch Gil Mehmert für „I hired a contract killer“ – eine Adaption des Films von Aki Kaurismäki –, und auch bei ihm wandeln sich die Orte mit verblüffender Leichtigkeit. Zudem wird hier eine Sekretärin im Handumdrehen zur Gangsterin, ein Killer zum Portier. Der einzige Fixpunkt ist der Held: Henri, ein gefeuerter Angestellter. Eckhard Preuß spielt ihn als Karikatur eines Verlierers, die Augenbrauen hochgezogen und die Sprache leicht eingerostet. Henri ist durch und durch eine Kunstfigur, und doch muss man mitfühlen, wenn er sehnsüchtig sein Kofferradio umarmt. Henri ist der Beweis: Eine offensichtliche Lüge ist nicht nur die ehrlichste Lösung, sondern kann überdies sehr liebenswürdig sein.