Der Tag, der alles änderte

N 30 – so heißt das Ereignis, das eine weltweite Bewegung inspirierte. Und eine Stadt veränderte. Sabine am Orde über acht Biografien des 30. 11. 1999

aus Seattle SABINE AM ORDE

Das Glück nach der Einsamkeit

Sally Soriano wohnt in einem ruhigen Viertel im Norden von Seattle. Den Vorgarten des kleinen Hauses, in dem sie alleine lebt, begrenzen Rhododendronbüsche, durch das Wohnzimmerfenster sieht man den Sund. Sie sitzt auf dem Sofa und strahlt. „N 30“, sagt Sally Soriano und meint den 30. November 1999 damit, „das war einer der glücklichsten Augenblicke in meinem Leben.“

Sally Soriano ist 55 Jahre alt, früher war sie Lehrerin. Sie hat viele Aktionen und Proteste organisiert. Im vergangenen Jahr unterstützte sie die Präsidentschaftskandidatur des Grünen Ralph Nader, mehr als zehn Jahre zuvor die des Demokraten Jesse Jackson. Die meiste Zeit aber hat Sally Soriano in den letzten zehn Jahren mit dem Welthandel verbracht, mit Lobbyarbeit gegen Freihandelsabkommen. „Das war ein ganz einsamer Job“, sagt sie. WTO, Nafta, Gatt – das waren für die Menschen in Seattle abstrakte, weit entfernte Begriffe. Bis Anfang 1999, als bekannt wurde, dass die WTO-Spitze in Seattle tagen sollte: „Plötzlich war klar, dass das Ganze jetzt endlich hier, in meiner Stadt, zum Thema werden muss.“

Mit Unterstützung von Public Citizen, einer Organisation, die Ralph Nader gegründet hat, organisierte Sally Soriano regelmäßige Treffen. Das erste Ziel: mt Hilfe von Rednern „Struktur und die Machenschaften der WTO“ bekannt zu machen. Am meisten stört Soriano, dass die WTO nationales Recht außer Kraft setzen kann. Das hätten auch die meisten Zuhörer kaum glauben können, sagt sie, schließlich sei das „eine Frage der Demokratie“. Schnell wurde klar, dass Vorträge nicht reichen. „Wir wollten schließlich möglichst viele Menschen auf die Straße bringen.“ Die Gruppe teilte sich auf, organisierte Diskussionen, schrieb Artikel für Nachbarschaftszeitungen. „Irgendwann wussten die Leute in Seattle, was die WTO ist, und viele hielten davon nichts.“ Leiser Stolz schwingt in ihrer Stimme mit. Und mit Blick auf die Proteste gegen Prag, Genua und Doha sagt sie dann: „Es ist doch großartig, dass wir das gestartet haben.“

Enttäuschte Erwartungen

Erica Kay ist für Journalisten schwer zu erreichen, sie mag die Presse nicht. Widerwillig lässt sie sich auf ein Treffen ein, doch ein Foto von sich will sie in der Zeitung nicht sehen. „In einem Cafe“, schlägt sie vor, „aber zu Starbucks gehe ich nicht.“ Starbucks ist die größte Cafékette der USA, in seinem Stammsitz Seattle hat der Konzern fast an jeder Ecke Filialen. Von der Stadt an der Westküste aus hat sich Starbucks übers ganze Land ausgebreitet und inzwischen auch im Ausland Erfolg – ein Musterunternehmen für Globalisierungsfans.

Erica Kay ist eine hagere Frau in den Vierzigern, die zum Zopf zusammengebundenen Haare unterstreichen die Strenge in ihrem Gesicht. Für einen Sieg hält sie N 30 nicht. „Ja, wir haben es geschafft. Wir haben den Tagungsort dicht gemacht und den Anfang des Treffens verhindert“, sagt Erica Kay. „Aber deshalb ändert die WTO ihre Politik nicht. Jetzt versucht sie nur, das Ganze noch besser geheim zu halten.“

Erica Kay hat im Direct Action Network DAN mitgearbeitet, einem Zusammenschluss von Aktivisten mit einem klaren Ziel: das WTO-Treffen in Seattle zu blockieren. Kay kommt aus der Anti-Atomwaffen- und der Umweltschutzbewegung, sie hat ihr Leben der Politik verschrieben. Von der Welthandelsorganisation wusste sie damals nicht viel. Deshalb hat sie die Treffen besucht, die Sally Soriano und andere organisiert hatten. „Da wurde uns schnell klar, dass wir das verhindern müssen.“ Monatelang haben anfangs 50 Leute, dann immer mehr für dieses Ziel gearbeitet und Strategien entwickelt.

DAN teilte die Region um den Tagungsort in eine Art Tortenstücke auf. In jedem dieser Stücke wurden kleine Bereiche an einzelne Gruppen vergeben. „Die konnten dann selbst entscheiden, wie sie diesen Platz besetzen“, sagt Erica Kay. „Manche haben sich angekettet, andere haben Straßentheater gemacht.“ Sie selbst war nicht dabei. Sie wurde gleich am Anfang verhaftet und hat fünf Tage im Gefängnis verbracht.

Das Direct Action Network gibt es in Seattle nicht mehr. „Nach diesem Riesending haben wir es nicht geschafft, uns zu reorganisieren und die Erwartungen runterzuschrauben“, sagt Kay. Und da gebe es eben auch noch eine Menge persönlicher Konflikte. Sie selbst aber engagiere sich seitdem noch viel mehr. Ihr derzeitiger Fokus: Bushs Krieg gegen den Terror.

Dreimal Pfefferspray

Für Vanessa Lee ist vieles anders geworden, seitdem die WTO in Seattle getagt hat. Ihr Tagesablauf hat sich verändert, neue Freunde hat sie auch. „Vorher war ich zwar politisch interessiert, aber aktiv war ich nicht“, sagt die 25-jährige Politikstudentin. Heute ist sie so etwas wie eine Allroundkämpferin, die gleichzeitig gegen den Krieg demonstriert, Rassismus anprangert und die WTO bekämpft. Dafür ist sie sogar letztes Jahr im Herbst nach Prag gereist, um gegen Weltbank und IWF zu demonstrieren. In Fransenrock und Doc Martens sitzt sie bei Kaffee und Karottenkuchen im Cafe des Elliot Bay Bookstore, dem alternativen und bestsortierten Buchladen der Stadt, und erzählt, was sich während der WTO-Tagung zugetragen hat.

Vor der Tagung dachte Vanessa Lee noch, „das wäre eine Demo von ein paar Althippies“. Den 30. November hat sie im Fernsehen verfolgt und den nächsten Tag auch. Als sie abends mit ihrem Freund aus einem Restaurant auf die Straße trat, warnte sie ein Passant: Sie sollten nicht in Richtung Süden gehen, dort würde die Polizei Tränengas und Pfefferspray einsetzen. „Wir konnten das nicht glauben, das war schließlich unsere Nachbarschaft und nicht Downtown“, sagt Lee und zerbröselt dabei den Karottenkuchen mit ihrem Teelöffel.

Das Paar ging Richtung Süden und beobachte, wie Polizisten Passannten verprügelten, wie die Nationalgarde aufmarschierte. „Da hab ich dann – naiv, wie ich damals war – einen der Bullen gefragt: Warum ist die Nationalgarde da?“ Eine Antwort bekam Lee nicht. Als eine andere Frau die Frage wiederholte, schubste der Polizist sie weg. „Da bin ich vorgesprungen und hab gesagt: Warum machen sie das? Sie hat doch nur eine Frage gestellt.“ Der Polizist sei handgreiflich geworden. „Er hat mich in eine Hausecke geschoben und mir dreimal Pfefferspray direkt ins Gesicht gesprüht“, sagt Lee. „Das war der Moment, in dem ich zur Aktivistin geworden bin.“ Sie knallt den Löffel auf die Kuchenstückchen und schiebt nach: „Und ich glaube, das ging vielen so.“

Jeder wollte eine Schildkröte sein

Seit dem 30. November 1999 glaubt Ben White wieder an die Revolution. „Das war ein unheimliches starkes Gefühl“, sagt er. „Damals haben wir gelernt, dass wir alle denselben Feind haben, egal ob wir uns für soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Umweltschutz, Arbeiter- und Bauernrechte oder Tierschutz einsetzen. Und wir haben festgestellt, dass wir mächtiger sind, als wir dachten.“

Wenn Ben White nicht gerade in Washington D. C. Lobbyarbeit betreibt, lebt er mit seinen zwei Kindern auf einer malerischen Insel im Sund nördlich von Seattle. In Friday Harbour, dem Hauptort der Insel, hat er ein kleines Büro. Zum Lunch im Hafenrestaurant gibt es Tacos mit Lachs. Dazu prescht Ben White, der gerade seinen 50. Geburtstag gefeiert hat, durch seinen politischen Lebenslauf. Er erzählt von Vietnamkrieg und Bürgerrechtsbewegung, von Umwelt- und Tierschutz. Heute ist er beim Animal Welfare Institute, einer radikalen Tierrechtsorganisation. Dort wird er für seine Arbeit als „internationaler Organisator“ bezahlt.

Whites besondere Leidenschaft sind Schildkröten, besonders Meeresschildkröten, die er für „die erfolgreichste Lebensform auf der Erde“ hält. White erzählt, dass Hunderttausende dieser Tiere jährlich in den Netzen von Krabbenfischern sterben; dass US-amerikanische Fischer inzwischen besondere Netz benutzen müssen, aus denen sich die Schildkröten befreien können; und dass die USA 1996 auch den Import von Krabben an diese Vorgabe knüpften. „Wir haben Jahre gebraucht, um das durchzusetzen“, sagt er. „Doch fünf Länder haben dagegen bei der WTO geklagt – und Ende 1998 Recht bekommen. Die USA dürfen den Krabben-Import nicht an solche Bedingungen koppeln – und Meeresschildkröten nicht schützen.“

Dass die Schildkröten ein Thema bei den WTO-Protesten sein sollten, das war White schon Anfang 1999 klar. Als er eines Tages in der Badewanne saß, hatte er eine Idee: Er wollte Demonstranten in Schildkrötenkostümen auf die Straße schicken und selbst als Turtle an der Blockade des WTO-Treffens teilnehmen. Seine Idee wurde umgesetzt – und ein großer Erfolg. „Wir hatten 240 Kostüme und mussten mehr als 100 Leute wegschicken“, erinnert sich White. „Jeder wollte eine Schildkröte sein.“

Zwei Jahre nach der „Battle in Seattle“ arbeitet White – „wie alle“ – wieder an seinen alten Themen, „aber die Verbindung zu den anderen ist weiterhin da“. Schließlich hätten die Protestierenden sich persönlich kennen gelernt, täglich bekomme er E-Mails aus allen Teilen der Welt. Aber auch ganz privat hat der WTO-Protest sein Leben verändert, sagt White. Beim Kauf von Kleidern achte er jetzt darauf, wo sie produziert worden sind. „Das habe ich vorher nicht gemacht.“ White glaubt, dass auch ein anderer Einschnitt in seinem Leben auf sein politisches Engagement zurückzuführen ist: Sein Haus ist abgebrannt und er ist sich sicher, dass die Brandstifter es auf ihn abgesehen hatten. „Kurz vorher haben ein paar Leute in meiner Nachbarschaft nach mir gefragt und sich als Ökoterror-Experten ausgegeben.“

Entscheidend für das ganze Leben

Ron Judd ist der Chef der AFL-CIO für den Westen der USA, also kein kleiner Fisch im Gewerkschaftsdachverband. Und er ist seit langem als Aktivist gegen den Freihandel bekannt. Doch Ron Judd ist nicht zu sprechen. Er habe gerade eine Rückenoperation hinter sich und sei krank, heißt es in seinem Büro. „Aber Sie können ja mal ihre Nummer hinterlassen.“ Noch am gleichen Abend klingelt das Telefon. Natürlich wolle er sich zur WTO äußern, sagt Judd, „aber leider geht es nur am Telefon“.

Judd war von Anfang an klar, dass sich die Gewerkschaften an den Protesten gegen die WTO beteiligen müssen. „Schließlich wissen wir seit langem, dass die WTO extrem nett zu multinationalen Konzernen ist, aber gar nicht nett zu Arbeitern und zur Umwelt.“ Wirklich umstritten sei die Teilnahme an den Protesten innerhalb der AFL-CIO deshalb auch nicht gewesen. „Die Frage war eher, wie.“ Ihn selbst hat diese Debatte irgendwann genervt. „Es gab diese Diskussionen, ob wir auch wirklich hinter den Slogans der anderen Gruppen stehen können“, sagt Judd. „Für mich war aber vor allem wichtig, dass möglichst viele Gruppen und möglichst viele Slogans vertreten sind.“ Die Gewerkschaften haben schließlich mit 30.000 Teilnehmern die größte Demonstration auf die Beine gestellt. „Viele haben aber auch an Mahnwachen von kirchlichen Gruppen und an der Blockade teilgenommen, sind mit Tränengas besprüht und verhaftet worden.“

Judd war einer der ersten Sprecher auf den monatlichen Treffen, die Sally Soriano mitorganisiert hatte. „Der Protest gegen die WTO“, hat er da den Zuhörern erklärt, „ist eines der wichtigsten Ereignisse, das jeder von uns in diesem Raum in seinem Leben haben wird.“ Das glaubt Judd, der inzwischen 48 Jahre alt ist, auch nach den Terroranschlägen vom 11. September noch. Und er ist sich sicher, dass die Proteste in Seattle die internationale Debatte über den Freihandel verändert haben. „Viel mehr Menschen wissen jetzt, was die WTO ist, und viele sind skeptischer. Die Bündnisse werden breiter, die Demonstrationen größer. Das ist der erste Schritt zur Veränderung der Politik.“ Dass WTO-Kritik nach den Anschlägen in den USA niemanden mehr interessiert, denkt Judd nicht. „Das stimmt vielleicht jetzt, ganz kurzfristig. Aber das wird sich bestimmt wieder ändern.“ Der energische Ton in seiner Stimme lässt keinen Zweifel zu.

Überrascht von der Brutalität

Mit seiner Lederjacke und der verschlissenen schwarzen Hose sieht Peter Fryer fast wie ein junger Berliner Autonomer aus. Fryer ist ein Fantasiename, denn seinen richtigen Namen will er nicht in der Zeitung sehen, auch ein Foto nicht. Fryer ist 21 Jahre alt, studiert Psychologie und sagt, er sei Anarchist. „Aber Schaufenster habe ich deshalb noch lange nicht eingeschmissen“, fügt er schnell hinzu. Richtig schlimm fände er das allerdings auch wieder nicht. „GAP, Starbucks, Nike – die Falschen hat es jedenfalls nicht getroffen.“ Am Rand einer Friedensdemonstration sitzt Peter Fryer auf dem Bürgersteig, auf der Bühne ein paar Meter entfernt gibt es Statements gegen den Krieg in Afghanistan.

Fryer ist an N 30 mit anderen Studenten frühmorgens in die Stadt gezogen und hat eine Kreuzung nahe dem Convention Center blockiert. Schon am Abend zuvor hatten er und seine Gruppe sich mit Leuten des Direct Action Networks getroffen und noch einmal besprochen, wie die Blockade ablaufen kann. „An unserer Kreuzung waren vielleicht 100 Leute, wir setzten uns hin und hakten uns ein“, sagt Fryer, der später einmal als Psychotherapeut arbeiten will. „Dazu gab es Trommelmusik, das war richtig klasse.“

Stundenlang ging das gut, doch irgendwann griff die Polizei ein. „Und zwar unglaublich brutal“, erzählt Fryer. „Wir haben ja damit gerechnet, dass wir vielleicht verhaftet werden, aber mit Prügel gerechnet haben wir nicht.“ Richtig viel abbekommen habe er nicht, „nur ein bisschen Tränengas und Pfefferspray“. Anderen sei es schlimmer ergangen. Doch Fryer war geschockt, einen solchen Polizeieinsatz hätte er in Seattle nie für möglich gehalten. „Hier ging bisher doch immer alles ganz friedlich zu.“

Seit den WTO-Protesten habe sich das Klima in der Stadt stark verändert. Peter Fryer sagt: „Dass die Polizei viel zu heftig reagiert, kommt jetzt häufiger vor. Manche haben inzwischen Angst, auf Demonstrationen zu gehen. Das wäre vorher in Seattle unvorstellbar gewesen.“ Er selbst würde jederzeit wieder gegen die WTO protestieren, „schließlich will ich nicht, dass die Konzerne mein Leben bestimmen“. Aber auf eine solche Blockade würde er sich heute ganz anders vorbereiten. Was er damit genau meint, sagt Peter Fryer nicht.

Hot-Dog-Essen mit Stahlarbeitern

Spiritualität ist wichtig in Janet Thomas’ Leben. Sie sucht nach Verbundenheit, nach dem Gefühl, aufgehoben zu sein. Im Oktober 1999, einen Monat vor der WTO-Tagung, hatte sie ein solches Gefühl: bei einer Veranstaltung zum Thema gerechte Weltwirtschaft, zu der kirchliche Gruppen geladen hatten. „In der Kirche waren etwa 1.000 Leute, viele davon in meinem Alter, so etwas hatte ich ewig nicht erlebt“, sagt Thomas, eine Journalistin in den Vierzigern. „Ich habe vieles nicht verstanden, aber ich hatte das Gefühl, unter Freunden zu sein.“

In der Kirche erfuhr sie auch von den Protesten gegen die WTO-Tagung, doch der 30. November begann für sie ganz normal: Sie machte sie sich auf den Weg in ihre Redaktion. „Als mir aber klar wurde, dass heute die große Demonstration gegen die WTO ist, bekam ich ein komisches Gefühl.“ Auf der Arbeit angekommen, drehte sie um.

Janet Thomas ist in Wales geboren, seit ihrer Jugend lebt sie in den USA. Mit ihrem Sohn wohnt sie seit einigen Jahren auf einer kleinen Insel im Sund. Dort sitzt sie, der Wind streift durch ihr Haar. Zu ihren Füßen schläft ein altersschwacher Hund. Janet Thomas blinzelt in die letzten Sonnenstrahlen und erzählt von dem Tag, der „einfach großartig“ war – „und so viel verändert hat“. Sie erzählt von japanischen Reisfarmern und Bauern aus Südamerika, von Müllmännern, die Regenjacken verteilt haben, und Stahlarbeitern, mit denen sie Hot Dogs gegessen hat. „Dass Ganze war wie globales Familientreffen, einfach wunderbar.“

Irgendwann aber wurde sie müde und wollte zurück, doch Busse fuhren nicht. „Deshalb hab ich in meinem Büro angerufen, um zu fragen, ob mich jemand abholen kann. Doch die erste Frage war, wie es mir geht. Und ob ich wüsste, dass es Straßenschlachten gibt und eingeschlagene Scheiben und Tränengas.“ Thomas wusste davon nichts. Doch dann hat sie die ganze Nacht vor dem Fernseher verbracht und war entsetzt: dass die Zuschauer nur die Bilder von der Straßenschlacht sehen können und die von ihrem großartigen Tag nicht.

Janet Thomas schreibt, ganz unterschiedliche Dinge, zuletzt war sie Redakteurin bei einem Reisemagazin. Wochenlang redete sie über ihre „N-30-Erfahrungen“, irgendwann entschied sie sich, ein Buch daraus zu machen. Neun Monate lang hat sie Protestler besucht und ihre Geschichten aufgeschrieben. (Janet Thomas: „The Battle in Seattle. The Story behind and beyond the WTO Demonstrations“. Fulcrum Publishing, Golden/Colorado 2000, $ 16,95) Für sie war das weit mehr als ein Job, fast eine Art Selbsterfahrung. Zweifel an ihrem bisherigen Leben kamen auf. „Das Ganze war wie ein Aufwachen für mich“, erzählt sie. „Mir ist klar geworden, dass der Weg, wie ich lebe, das Ergebnis von Leiden ist. Die billigen Klamotten, das Benzin, das Gefühl von Sicherheit. Dabei dachte ich immer, ich wäre eine ganz aufgeklärte Person.“ Janet Thomas war verzweifelt, und manchmal ist sie es noch. Viele Dinge hat sie verändert in ihrem Leben, aber die große Frage bleibt: „Ich weiß nicht, wohin ich gehöre.“

Raging Granny – wütende Oma

Carolyn Canafax ist eine kleine, zierliche Frau und seit ewigen Zeiten politisch aktiv. Mit ihrem Mann Leo lebt sie in einem Haus im Westen Seattles, zum Gewürztee gibt es kleine Lauchquiches aus der Tiefkühltruhe. Carolyn Canafax ist 80 Jahre alt und erzählt lieber von früher als von der Gegenwart. Davon, wie sie für das Leben von Julius und Ethel Rosenberg, die 1953 trotz weltweiter Proteste wegen Spionage hingerichtet wurden, auf die Straße gegangen ist. Wie sie in der McCarthy-Ära ihre Stelle als Grundschullehrerin verlor. Schon damals war sie Mitglied bei Wilpf, der Women’s International League for Peace and Freedom. Bei Wilpf hat sie auch „vor einigen Jahren“ zum ersten Mal von der WTO gehört und dass diese „Arbeiterrechte in der ganzen Welt aushebelt“.

Heute ist Carolyn Canafax Mitglied der „Raging Grannies“, einer Polit-Straßentheatergruppe, für die man ein gewisses Alter braucht. Mit den anderen „wütenden Omas“ war sie auch bei den Anti-WTO-Protesten am 30. November dabei. Am Rande des Memorial-Stadions, wo die große Gewerkschaftsdemo anfing, haben die „Raging Grannies“ ihre Anti-Globalisierungs-Songs präsentiert. Dann sind sie zu den anderen Demonstranten ins Stadion gegangen. Es war überfüllt – und zwar mit ganz unterschiedlichen Menschen. „Ich hatte das Gefühl, das ist ein historischer Moment“, sagt die Altaktivistin. „Schließlich habe ich mein ganzes Leben für ein breites Bündnis mit der Arbeiterbewegung gekämpft. Plötzlich war es Wirklichkeit, das war einfach großartig.“