„Das ist kein Land, in dem sich leben lässt“

Letztes Jahr drehte der Iraner Mohsen Makhmalbaf seinen Film „Kandahar“, ein Roadmovie durch das Taliban-regierte Afghanistan. Gerade arbeitet er an einer Dokumentation über afghanische Flüchtlinge. Ein Gespräch über Bildungsnotstand, die Zukunft des Landes und das Vorgehen der USA

Interview THOMAS ALLENBACH
und KATJA NICODEMUS

taz: Herr Makhmalbaf, Sie waren vor kurzem in den Grenzregionen von Afghanistan, Iran und Pakistan, wo Sie einen Dokumentarfilm gedreht haben. Was haben Sie erlebt?

Mohsen Makhmalbaf: Mein Dokumentarfilm befasst sich mit der Bildungssituation des afghanischen Volkes und den damit verbundenen Konsequenzen. Ich habe vor allem in Flüchtlingscamps gedreht. Ich will es so sagen: Für mich sind die Taliban nicht in erster Linie ein politisch-religiöses System, sondern ein System, das vor allem ex negativo funktioniert – durch Angst und durch die Abwesenheit von Bildung. Insgesamt gibt es 7 Millionen afghanische Flüchtlinge, 4 Millionen im Iran und 3 Millionen in Pakistan. 95 Prozent der Frauen habe keinerlei Schulbildung und können weder lesen noch schreiben, bei den Männern sind es immerhin 80 Prozent – das war schon vor der Machtergreifung durch die Taliban so und wurde von ihnen ganz bewusst nicht verändert. Das Problem ist, dass dieser Situation von den Ländern, die die Flüchtlinge aufgenommen haben, nichts entgegengesetzt wurde. Da diese Menschen illegal im Iran leben, können sie und ihre Kinder auch nicht zur Schule gehen. Doch in der letzten Zeit versuchen Unicef, eine von mir gegründete Organisation und andere NGO-Gruppen in diesen Camps zu arbeiten. Leider können wir wirklich nur die Menschen erreichen, die in den Camps leben, also 50.000 bis 80.000.

Wie sehen Sie unter diesen Bedingungen die politische Zukunft des Landes?

Ich bin da inzwischen recht optimistisch, was die Ergebnisse der Afghanistan-Konferenz betrifft. Die Chancen stehen gut, dass es eine Regierung aus allen poltischen Gruppierungen geben wird, eine, die nicht nur aus Paschtunen oder Tadschiken besteht, sondern aus allen ethnischen und politischen Gruppierungen. Dennoch: Damit eine funktionierende Demokratie entsteht, muss zunächst alles getan werden, damit das Bildungsniveau wieder steigt. Eine Demokratie braucht Medien, eine funktionierende Presse. Aber man muss die Zeitungen eben auch lesen können.

Das hört sich allerdings nach einem langwierigen Prozess an.

Weniger langwierig, als es scheint. Alle reden im Moment großmäulig vom Kampf gegen den Terror. Warum sucht sich nicht jede europäische Stadt eine Partnerstadt in Afghanistan? Zehn Monate Schulunterricht kosten pro Person etwa 30 Dollar. Die Miete eines Klassenraums im Monat 5 Dollar. Sie brauchen ein ausrangiertes Notebook, ein paar Stifte, eine Tafel. Nach einem knappen Jahr könnte man 8.000 Einwohnern in jeder Stadt eine elementare Bildung vermitteln. Damit würden die Voraussetzungen geschaffen, dass die Menschen selbstständig eine eigene Regierung wählen können. Es hört sich immer albern an, aber ich sage es trotzdem: Vergleichen Sie das mit den Kosten einer einzigen Rakete.

In ihrem letzten Spielfilm „Kandahar“ gibt es eine sehr eindringliche Szene in einer Koranschule. Man sieht winzige Jungs, die in einer ungeheuer meditativen Monotonie murmelnd vor sich hin beten. Diese Form der Erziehung ist Ihren säkularen Ausbildungszielen absolut entgegengesetzt. Wie wollen Sie ihr begegnen?

Das genau ist das Problem. Unter den afghanischen Flüchtlingen in Pakistan sind tausende von kleinen, unabhängig operierenden Koranschulen entstanden. Sie werden unterstützt mit Geld aus Saudi-Arabien. Dieser saudische Fundamentalismus setzt auf die ganz harte, antiwestliche Ideologie. Er setzt bei den Allerjüngsten an und verpasst ihnen schon ganz früh eine religiöse Gehirnwäsche. Diese Szene in der Koranschule hat durchaus dokumentarische Aspekte. Man kann der Indoktrination aber nur begegnen, indem man diesen Kindern Spielgefährten heranzieht, die über den religiösen Tellerrand hinausschauen.

„Kandahar“ spielt in Afghanistan, einem Land, in dem das Bilderverbot von den Taliban konsequent durchgesetzt wurde. Wo und unter welchen Bedingungen haben Sie den Film gedreht?

Bevor ich anfing, reiste ich letztes Jahr heimlich für Recherchen nach Afghanistan. Die Verhältnisse im Land haben mich schockiert. Außerhalb von Herat habe ich tausende von Menschen gesehen, die gerade Hungers starben. Als ich in den Iran zurückkehrte, beschloss ich, mit meinem Film so viele Informationen wie nur irgend möglich über die Situation in diesem Land zu vermitteln, das die Welt vergessen hatte. Den Film musste ich außerhalb von Afghanistan drehen, weil die Taliban keine Dreherlaubnis geben und es zudem im Land zu gefährlich gewesen wäre. Ich drehte „Kandahar“ direkt an der iranisch-afghanischen Grenze. Die Umstände waren dramatisch, denn jeden Tag kamen Flüchtlinge, die von den iranischen Ordnungskräften wieder zurückgedrängt wurden. Viele von ihnen waren krank, jeden Tag starben Frauen und Babys aus Hunger. Während zehn Tagen war ich so erschüttert, dass es mir unmöglich war, zu drehen.

Durch den Krieg in Afghanistan bekam dieser Film in vielen Ländern plötzlich einen Verleih. Wie empfinden Sie die neue Situation?

Als ich „Kandahar“ im Mai auf dem Filmfestival von Cannes zeigte, fragten mich einige Journalisten, weshalb ich kein wichtigeres Thema gewählt hätte. Heute interessieren sich plötzlich alle für dieses Land, aber aus den falschen Gründen, aus politischer Rache statt aus humanitärem Interesse. Wer weiß schon, dass in den letzten 20 Jahren 2,5 Millionen Afghanen wegen der Kriege und wegen des Hungers gestorben sind und heute fast 7,5 Millionen auf der Flucht sind und im Exil leben, die meisten in Iran und Pakistan. Heute kann überhaupt niemand mehr eine Schule besuchen. Das heißt: Als Afghane hat man keine Schulbildung, nichts zu essen und wegen der desolaten ökonomischen Situation – Afghanistan hat kein Erdöl wie Iran – auch keine Arbeit. Was bleibt, sind die Drogen oder der Krieg. Das ist kein Land, in dem sich leben lässt. Doch davon sprach vor dem 11. September niemand.

Was halten Sie von der Strategie der USA?

Ich bin mit der Reaktion der USA auf die Attacken vom 11. September nicht einverstanden. Man muss sehen, wer die Taliban aufgebaut hat. Zudem ändert sich nichts Grundlegendes, wenn man Bomben schickt, und was die eventuelle Ausweitung des Konflikts auf weitere Länder der arabischen Welt, etwa den Irak, angeht, habe ich die allergrößten Bedenken und Ängste. Ich kann nur wiederholen, was ich in Paris in meiner Rede zur Verleihung der Fellini-Medaille, die mir von der Unesco für „Kandahar“ verliehen worden ist, gesagt habe: Hätten die Supermächte in den letzten 25 Jahren Bücher statt Bomben nach Afghanistan geschickt, hätte es dort weniger Raum für Ignoranz, Terrorismus und Tribalismus gegeben.

Welche Wirkung erhoffen Sie sich von Ihrem Film, ob in Europa oder auch in Ihrer Heimat Iran?

Ich hoffe vor allem, dass er dazu beiträgt, dass Afghanistan nicht wieder vergessen wird. Bei der Vorführung in Cannes machte der Film die Zuschauer vor allem traurig; jetzt fragen sich viele, was sie tun können. Jeder kann etwas tun: Sie zum Beispiel können darüber schreiben. Ich kann Filme machen. Andere haben Geld. Sie können für Schulen spenden. Bildung ist der entscheidende Punkt. Unter den 3 Millionen afghanischen Flüchtlingen im Iran gibt es 500.000 afghanische Kinder, die nicht zur Schule gehen können. Ich habe deshalb die Initiative Afghan Children Education Movement gegründet und den iranischen Präsidenten Mohammad Chatami in einem Brief gebeten, diese Kinder – trotz ihres illegalen Status – am Unterricht teilnehmen zu lassen. Vom Analphabetismus profitieren nur die Taliban.

Frühere Filme von Ihnen sind im Iran verboten worden. Gab es für Sie mit „Kandahar“ keine Zensurprobleme?

Nein. Denn dies ist eben ein Film über Afghanistan und nicht über Iran. „Kandahar“ kam während des Filmfestivals von Cannes im Iran ins Kino. Fast 100.000 Menschen haben ihn gesehen.

Es ist ein Film über ein Land, über eine Gesellschaft, in der es keine Bilder und natürlich auch kein Kino gab. Eine absurde Situation.

Beim Drehen hatten wir immer wieder mit Menschen zu tun, die vor meiner Kamera zutiefst erschraken. Film war für sie ein magischer Spiegel, weil sie weder Kino noch Fernsehen oder Fotografie kannten. Sie wollten kein Bild von sich machen lassen aus Angst vor der Strafe Gottes. In meinem neuen Dokumentarfilm gibt es ein winziges Mädchen, vielleicht vier oder fünf Jahre alt, das nicht aus seiner Burka herauskommen will: „Gott wird mich in der Hölle verbrennen“, sagte es. Was soll man da antworten?

Sie haben sich bereits im Jahr 1988 in „The Cyclist“ mit Afghanistan beschäftigt. Woher kommt Ihr Interesse an diesem Land?

Es gibt dafür historische Gründe. Noch bis vor 250 Jahren war Afghanistan ein Teil Irans. Wir haben dieselbe Kultur, und wir haben manchmal auch dieselben Probleme. Bei der Kritik an den Taliban geht es nicht nur um Afghanistan. Die Taliban stehen für Ideen, die es auch in andern Ländern rund um Afghanistan gibt, auch im Iran und in Pakistan. Wir müssen sehr aufmerksam sein und diese Ideologie kritisieren. Ich glaube nicht an die Idee von Marshall McLuhan, wonach die Welt dank der Medien zu einem globalen Dorf wird. Wenn die Welt ein Dorf wäre, wie konnte man dann ein ganzes Land vergessen?

Mohsen Makhmalbafs Film „Kandahar“ kommt unter dem Titel „Eine Reise nach Kandahar“ auch in Deutschland ins Kino, ab 20. Dezember in Berlin und ab 3. Januar bundesweit.