Schweigen in Schuld

Der Streit um die Wehrmachts-verbrechen ist einer um das schlechte Gewissen deutscher Täter und Mitläufer. Eine historische Ordnung

von HANS-ERICH VOLKMANN

„Vergessen prägt unser Dasein“: Wenn sich diese Aussage des Mediävisten Johannes Fried je überzeugend bewahrheitet hat, dann im Blick auf den Umgang der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit der Institution Wehrmacht. Das Phänomen des Vergessens bedeutet für den Historiker eine besondere Herausforderung. Ist es doch seine Aufgabe, das Erinnerte um das Vergessene zu ergänzen und beides in Relation zueinander zu setzen.

So entsteht ein zunächst subjektives Bild der Geschichte, das es durch vielfältig überlieferte Zeitzeugnisse zu objektivieren gilt. Nun hat es der Historiker nicht nur mit individueller Erinnerungsfähigkeit zu tun, sondern auch mit außengesteuerter, sprich: manipulierter. Religionen, Ideologien, Medien oder autoritäre Regime kennen und nutzen die Mittel zur Verformung des Gedächtnisses und prägen so kollektive Erinnerung, wie sie sich auch durch gemeinsames Erleben und gemeinsame Taten einer menschlichen Gruppe, zum Beispiel der Wehrmacht, formt. Erinnerung wird zum inneren Identifikationspunkt, den die Betroffenen mitunter gegen alle von außen durch Realitäten drohende Verunsicherung verteidigen. Was die hier im Blickpunkt stehenden Wehrmachtsverbrechen anbelangt, so war und ist das Erinnerungsvermögen beeinträchtigt durch Bagatellisieren, Verdrängen und Verschweigen.

Dass die Wehrmacht an Kriegsverbrechen beteiligt war, ist wissenschaftlich dokumentiert. Und dass das Wissen darum unter Soldaten und in der Heimat weit verbreitet war, ist durch Gestapoberichte und Zeitzeugen belegt. Konrad Adenauer schrieb einem katholischen Geistlichen Anfang 1946 ins Merkbuch, „dass die Gestapo, unsere SS und zum Teil auch unsere Truppen in Polen und Russland mit beispiellosen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. [. . .] Die Geiselmorde in Frankreich wurden von uns offiziell bekannt gegeben. Man kann also wirklich nicht behaupten, dass die Öffentlichkeit nicht gewusst habe, dass die nationalsozialistische Regierung und die Heeresleitung ständig aus Grundsatz gegen das Naturrecht, gegen die Haager Konvention und gegen die einfachsten Gebote der Menschlichkeit verstießen.“

Die Thematisierung der Kriegsverbrechen berührte die Schmerzgrenze duldsamer nationaler Leidensfähigkeit. Die deutsche Gesellschaft verweigerte im Ganzen gesehen die Zuweisung und Anerkenntnis individueller und kollektiver Schuld gleichermaßen. So hat sich die Mehrheit der Gemeinden das Stuttgarter Schuldbekenntnis der evangelischen Kirche nicht zu eigen gemacht.

Eine kurze historische Schrecksekunde lang ließ die deutsche Gesellschaft unter dem Eindruck des totalen Zusammenbruchs und im Wissen um Kriegsverbrechen und Holocaust Anzeichen kollektiver Selbstbezichtigung erkennen. Rasch hat sie danach die Reihen zwischen Wissenden und Tätern unter Einschluss der Wehrmacht wieder eng geschlossen.

Die deutsche Gesellschaft verschloss sich durch Tabuisierung der Wahrheit, dass ihre rund achtzehn Millionen Soldaten nicht dem Vaterland, sondern, wie Richard von Weizsäcker es formulierte, „den unmenschlichen Zielen einer verbrecherischen Führung gedient“ hatten und in einem verbrecherischen Krieg womöglich selbst in Kriegsverbrechen involviert gewesen waren. Sie zeigte sich ihnen in kollektivem Schweigen verbunden.

Kaum eine Familie, die keinen Soldaten gestellt, keinen Toten zu beklagen hatte, und so fühlte sich ein ganzes Volk in Nürnberg angeklagt, als dort der Generalstab und das Oberkommando der Wehrmacht vor das internationale Militärtribunal gestellt und nach individueller Schuldbemessung abgeurteilt wurden.

Der Philosoph Karl Jaspers suchte zu erklären, warum sich viele Deutsche mit den Wehrmachtsangeklagten identifizierten: „In der Behandlung der eigenen Staatsführer, selbst wenn sie Verbrecher sind, fühlt sich [. . .] der Staatsbürger mit behandelt. In ihnen wird das Volk mit verurteilt. Daher wird die Kränkung und Würdelosigkeit in dem, was die Staatsführer erfahren, vom Volke als eigene Kränkung und Würdelosigkeit empfunden.“ Zumindest die westdeutsche Gesellschaft hat gegenüber dem Anwurf der Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen ein Immunsystem entwickelt, das ihr vor der Verinnerlichung der Wahrheit bis in die Neunzigerjahre hinein wirksamen Schutz bot. Unter dem Stichwort „Siegerjustiz“ erwirkte man den Selbstfreispruch. [. . .] Gefördert wurde solches Bestreben durch den Kalten Krieg und die politische Blockbildung. Als ehemalige Wehrmachtsangehörige zu Beginn der Fünfzigerjahre den Eintritt in westdeutsche Streitkräfte unter Hinweis auf laufende Kriegsverbrecherprozesse ablehnten, erließen die Amerikaner eine Teilamnestie.

Ungeachtet der Verdrängung der Verbrechen der Wehrmacht aus der öffentlichen Diskussion behielten diese jedoch für das westdeutsche politische Bewusstsein Relevanz. Sie bildeten eine Art Negativfolie, vor der die Bundeswehr entstand. Die neue westdeutsche Armee hat, in Absetzung von der Wehrmacht, auf eine eigene Militärjustiz und eine integrierte Militärseelsorge verzichtet und eine zivile Administration akzeptiert. Ein aus den demokratischen Parteien und repräsentativen gesellschaftlichen Gruppen konstituierter Personalgutachterausschuss unternahm große Anstrengungen, aus der Vergangenheit belastete ehemalige Wehrmachtsangehörige aus der Schar der Bewerber um militärische Spitzenpositionen auszusondern. Diese personelle Auswahl sollte im Zusammenwirken mit dem Prinzip der inneren Führung den Staatsbürger in Uniform zum Leitbild des deutschen Soldaten werden lassen.

Wie die Kriegsverbrechen, so fehlte zunächst als deren komplementäre Seite auch der militärische Widerstand auf der nachkriegsdeutschen Erinnerungsmedaille für die Wehrmacht. Widerstand, das war für ehemalige Wehrmachtsangehörige, selbst an der Spitze der Bundeswehr, das Gegenteil von Gehorsam. In vielen Biografien erfüllte „Gehorsam“ im Krieg eine nachträglich Sinn stiftende Funktion. Welche moralische Rechtfertigung für Tun und Lassen im Zweiten Weltkrieg wäre denn geblieben, wenn man die Gehorsamspflicht in Frage gestellt hätte?

Beriefen sich doch die meisten angeklagten ehemaligen Wehrmachtsangehörigen auf den Befehlsnotstand, ein Begriff, der keinerlei Rechtsqualität besitzt. Erst auf nachhaltiges Drängen von Bundespräsident Theodor Heuss, den militärischen Widerstand zum traditionellen Bezugspunkt westdeutscher Streitkräfte zu machen, verstand sich am 20. Juli 1959, fünfzehn Jahre nach dem Attentat, Generalinspekteur Heusinger erstmals zu einer entsprechend positiven, wenngleich halbherzigen Äußerung. Was bundeswehrspezifisch gewesen sein könnte, war in Wahrheit symptomatisch für das zwiespältige Verhältnis der deutschen Gesellschaft zum Widerstand. [. . .] Karl Jaspers konstatierte im Jahr 1966: „[. . .] die Deutschen scheinen durchweg noch nicht die Umkehr vollzogen zu haben aus der Denkungsart, die die Herrschaft Hitlers ermöglichte“.

Und genau dagegen revoltierte die Achtundsechzigerstudentenbewegung, gegen eine Elterngeneration, deren Geschichtslektüre mit dem 29. Januar 1933 endete, die auf den Trümmern unreflektierter jüngster Vergangenheit ein verbessertes politisches, soziales und ökonomisches Modell der Weimarer Republik unter Einbeziehung alter Nazis in führende Positionen und ehemaliger Wehrmachtoffiziere rekonstruiert hatte.

Mit Steinwürfen versuchten die Kinder, das Schweigen der Eltern über deren Verhalten in Krieg und Wehrmacht zu brechen, da es ihnen mangels Wissen um das Geschehene an der Fähigkeit gebrach, präzise Fragen zu stellen. Und die Eltern schwiegen nicht zuletzt, wie uns die Tiefenpsychologen lehren, weil sie fürchteten, ansonsten den Respekt ihrer Kinder zu verlieren.

Wer NS-Vergangenheit aufarbeiten wollte, durfte die Geschichte der Wehrmacht nicht vergessen. Historiker, die sich entsprechend an die Arbeit machten, hatten es nicht leicht, das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken. Diffamierten doch ihre Gegner die so genannte Vergangenheitsbewältigung als Mittel politischer Destruktion.

Zwei 1969 erschienene, im Militärgeschichtlichen Forschungsamt entstandene Standardwerke mit der These von der Wehrmacht als einer der tragenden Säulen des NS-Regimes, lösten zunächst eine Welle öffentlichen Widerspruchs aus, die dann ebenso rasch wieder verebbte. Mit eruptiver Empörung reagierte die deutsche Öffentlichkeit auf ein 1981 erschienenes, im Münchner Institut für Zeitgeschichte erarbeitetes Werk über „Die Truppe des Weltanschauungskrieges“, das die Einbindung der Wehrmacht in die völkischen Vernichtungsaktionen der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD im Osten erstmals dokumentierte.

Bei vielen Zeitgenossen verfestigte sich durch solche Arbeiten der Vorsatz, zukünftig die Geschichte der Wehrmacht, insbesondere der ihr angelasteten Verbrechen, den berufenen Historikern zu überlassen, diese aber mit ostentativem Desinteresse zu strafen. Dennoch halten Gedächtnisspezialisten wie der Hirnforscher Rolf Singer für die Historiker eine aufmunternde Botschaft parat: „Die Natur der Speicherprozesse im Gehirn stützt die Vermutung, dass unter nicht pathologischen Bedingungen einmal Gespeichertes nicht spurlos verschwinden kann.“

Für diese Annahme spricht die Wirkung der im März 1995 erstmals in Hamburg gezeigten Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“. Was der Macht des geschriebenen wissenschaftlichen Wortes nicht gelang, das erreichte diese Ausstellung: nämlich einen öffentlichen wie kontroversen Diskurs über Verbrechen der Wehrmacht im Osten, namentlich im Zuge der Partisanenbekämpfung und der Vernichtung der Juden bei der so genannten Endlösung der Judenfrage.

Dass diese Ausstellung provozierte, polarisierte und emotionalisierte, ist neben ihrer historischen auch ihrer politischen Aussage zuzuschreiben. Denn zusammen mit der Botschaft von Kriegsverbrechen der Wehrmacht transportierte sie die Forderung nach Rehabilitierung von Deserteuren, die gerade im parlamentarischen Raum debattiert wurde.

Und doch, auch wenn die Auseinandersetzungen um die erste Ausstellung breite innergesellschaftliche Schleifspuren hinterlassen haben, trat eine Versachlichung ein. In deren Verlauf begann sich die Fokussierung auf die Verbrechen zu Gunsten einer Gesamtbetrachtung des Phänomens Wehrmacht aufzulösen. Dies fand auf einer internationalen Tagung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes beispielhaft seinen Niederschlag.

Ein Zweites erscheint mir ebenso bemerkenswert: Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat sich selbst, zweifelsohne bei erheblichen personellen Reibungsverlusten und angestoßen durch den extern erbrachten Nachweis von Fehlern bei der wissenschaftlichen Recherche, in die öffentliche Debatte um seine eigene Ausstellung mit einbinden lassen und sich zu einer Entpolitisierung und damit Historisierung im Rahmen einer zweiten Ausstellung entschlossen.

Die Verantwortlichen im Institut beweisen damit im ursprünglichen Sinn des Wortes ihre Kritikwürdigkeit. Ein zumeist jüngeres Team hat in der Verantwortlichkeit von Jan Philipp Reemtsma das alte Thema „Wehrmachtverbrechen“ völlig neu aufbereitet. Die Ausstellung lässt im Gleichklang mit neuester Forschung kaum Zweifel darüber aufkommen, dass die Mordbefehle im Großen und Ganzen befolgt wurden. Dabei wird deutlich, dass selbst im Vernichtungskrieg Raum blieb für individuelle Entscheidungen aus ethischer Verantwortung. Die dem Historiker überlieferten Dokumente erlauben allerdings keine Zahlenspiele über Wissende, Unbeteiligte und Täter und selten Aufschlüsse über deren Motive.

Ein Drittes bleibt festzuhalten: Die neue Ausstellung reflektiert ihre eigene Geschichte, indem sie die um sie geführte Diskussion dem Besucher offeriert und indem sie auf Kritik und Anregungen reagiert. Was wäre reizvoller, als festzustellen, welche Ihrer und unserer Einwände und Anregungen fruchtbaren ausstellerischen Niederschlag in den Räumen der „Kunst-Werke“ hier in Berlin gefunden haben?

HANS-ERICH VOLKMANN, Jahrgang 1938, ist Leiter der Abteilung Forschung am Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam. Sein Text ist die redaktionell gekürzte Fassung seiner, am 27. 11. gehaltenen Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944“