Postsäkulare Euro-Buster

Kino ohne Respektlosigkeit: In Berlin ging der Europäische Filmpreis an Jean-Pierre Jeunets Wunschbox „Die wunderbare Welt der Amélie“

Früher wirkte die Preisvergabe manchmal wie eine Versammlung von Mitgliedern einer kryptoreligiösen Sekte

In Jordanien landete ich auf der Durchreise einmal in einer kleinen Beduinensiedlung am Rande der Wüstenlandschaft des Wadi Rum. Am Abend wurde zum Tee im Zelt des Chefs durch alle Programme gezappt, um die neue Satellitenschüssel auszutesten, und vielleicht auch, um die Gäste aus Europa ein bisschen zu beeindrucken. Am Samstag dachte ich während der Verleihung der Europäischen Filmpreise manchmal an dieses gemütliche Zelt und stellte mir vor, wie die Howeitat-Beduinen das alles wohl fanden. Immerhin wurde die Zeremonie ja zum ersten Mal live und in ganzer Länge auch vom jordanischen Staatssender JRTV übertragen, während die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland mal wieder wegen der Quotenparanoia kniffen.

Da die Howeitat ihre aus Schafswollteppichen bestehenden Behausungen stets in einer unauffällig-funktionalen Kastenform bauen, dürften sie wohl ihre Witze gerissen haben über das megalomanisch in den Himmel schießende neue Berliner Tempodrom-„Zelt“. Vielleicht haben sie anerkennend genickt, als Isabelle Huppert ihren Darstellerinnenpreis für „Die Klavierspielerin“ in den fünf wichtigsten Touristensprachen entgegennahm, oder sich gewundert über den dicken Briten, der beim Moderieren ständig über seine eigenen Witze lachte. Vielleicht erging es ihnen wie mir, die beim Aufmarsch der Stars Marisa Paredes mit Hiltrud Schröder verwechselte. Und vielleicht stießen auch sie sich amüsiert die Ellbogen in die Seiten, weil Wim Wenders, Präsident der Europäischen Filmakademie, in seinem Yamamoto-Anzug ein bisschen wie ein Zirkusdirektor aussah.

Aber machen wir uns nichts vor. Natürlich zappten die Howeitat spätestens nach den ersten 30 Sekunden von Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümeln weiter. Denn Beduinen haben nicht nur bei T. H. Lawrence ein untrügliches Gespür für Rhetorik und finden es unverzeihlich, wenn eine schöne Begrüßungsrede mit einer sprechenden AOK-Broschüre verwechselt wird.

Dabei waren die Voraussetzungen diesmal gar nicht so schlecht. Nachdem der Europäische Filmpreis in früheren Zeiten manchmal wie die Mitgliederversammlung einer kryptoreligiösen Sekte wirkte, waren in diesem Jahr lauter Filme nominiert, die für eine Konsolidierung des europäischen Kinos sprechen. Nanni Morettis Trauermelodram „Das Zimmer meines Sohnes“, Patrice Chéreaus sexualisierter Beziehungstrip „Intimacy“, die kleine heitere Dogma-Komödie „Italienisch für Anfänger“ von Lone Scherfig oder auch Michael Hanekes Isabelle-Huppert-Vivisektion „Die Klavierspielerin“ liefen alle mit ziemlichem Erfolg europaweit im Kino und ergeben durchaus die in den Rahmenprogrammen der Verleihung immer wieder hochgelobte Vielfalt und Bandbreite.

Dass Jean-Pierre Jeunets Pariser Wunschbox „Die wunderbare Welt der Amélie“ dann Regie-, Kamera-, Publikums- und Hauptpreis abräumte, wirkte zwar wie ein letztlich etwas lustloser Reflex auf die zig Millionen Zuschauer des solitären Euro-Busters, aber warum sollte man dagegen ernsthaft unken? Geschweige denn gegen die leicht lähmende serielle Dramaturgie einer Veranstaltung, die von Oscar über Golden Globe bis Bambi aus einem nur begrenzt aufzupeppenden Grundmodul besteht – einer sagt was und gibt dem anderen ein Figürchen.

Mindestens zwei schöne Momente gab es aber: als Andres Veiel sich über den Dokumentarfilmpreis für „Blackbox BRD“ wie ein Fußball-Weltmeister freute und Standing Ovations für Terry Gilliam und Eric Idle, die stellvertretend für alle Monty Pythons den Preis fürs Lebenswerk in Empfang nahmen. Als roter Ehrenfaden wurden in die Verleihung immer wieder Ausschnitte aus Monty-Python-Filmen eingespielt, zum Beispiel die zum Spermalied tanzenden Schwuchtelsoldaten oder ein hippiehafter Jesus Christus am Kreuz, der in „Das Leben des Brian“ zusammen mit anderen Gekreuzigten „Always look on the bright side of life“ schmettert.

Seltsamerweise wirkten diese Szenen in ihrer fröhlichen und völlig selbstverständlichen Blasphemie wie völlige Fremdkörper, Botschaften aus einer anderen Ära oder Grüße aus dem Weltraum: vielleicht weil diese buchstäblich über alle Leichen gehende antiinstitutionelle Respektlosigkeit nicht nur aus dem europäischen Kino spurlos ohne jeden Nachhall verschwunden ist; vielleicht weil einem bewusst wurde, dass es einmal eine Subversion des Religiösen gab, die heute angebrachter wäre als je zuvor; vielleicht auch, weil heute alle plötzlich vom postsäkularen Zeitalter reden und die Pythons im letzten Jahrtausend doch schon mal viel weiter waren.

KATJA NICODEMUS