Der Bastard spricht

Seine Texte waren kein Hohelied afrikanischer Identität, sondern Werkzeugkiste für globale Abhängigkeiten und Einwanderung: Am 6. Dezember ist der 40. Todestag von Frantz Fanon

von MARK TERKESSIDIS

Unter den vielen Stimmen nach den Ereignissen des 11. September waren auch solche, die den Anschlag als eine Antwort der „Verdammten dieser Erde“ auf die Zumutungen der Globalisierung begriffen. Kaum anzunehmen, dass jüngere Leute gleich verstehen konnten, worauf hier Bezug genommen wurde. Wer kennt schon noch jenes Manifest der antikolonialen Bewegung aus dem Jahre 1961 und seinen Autor Frantz Fanon? Dazu scheint die Idee einer Verbindung zwischen dem monströsen Akt der Gewalt und den marginalisierten Massen der so genannten Dritten Welt viel zu direkt aus dem Gedächtnis des hiesigen Antiimperialismus zu stammen. Fanons Buch wurde bei Erscheinen maßgeblich unter dem Blickwinkel einer Verherrlichung der Gewalt gelesen – Fanon hatte den Kolonialismus als „Gewalt im Naturzustand“ beschrieben und der Gegengewalt im Kampf um nationale Unabhängigkeit „positive und aufbauende Züge“ unterstellt. Diesen Aspekt hatte Jean-Paul Sartre in seinem flammenden Vorwort noch einmal unterstrichen. Mit kaum verhohlenem Vergnügen am „Schiss“ der Liberalen stellte Fanon fest, dass es in der ersten Zeit des Aufstandes notwendig sei, einen Europäer zu erschlagen: „Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“

Freilich war diese Leseweise von Fanons Werk bis zum 11. September praktisch vergessen – obwohl Fanon in den Neunzigerjahren in der englischsprachigen Welt ein erstaunliches Revival erlebt hatte. Dabei war es wiederum ein Vorwort, das die Richtung seiner erneuten Rezeption maßgeblich beeinflusste. 1986 adelte Homi Babbha, indessen einer der Stars der so genannten „postcolonial studies“, die britische Neuausgabe von „Schwarze Haut, weiße Masken“ mit seinen einleitenden Worten. Seitdem gehört Fanons Erstling aus dem Jahre 1952 wieder zum kulturwissenschaftlichen Kanon. Doch der „critical Fanonism“, von dem der amerikanische Kulturwissenschaftler Henry Louis Gates einmal sprach, hat Fanons Werk zumeist nur auf die gängigen Schlüsselbegriffe der Postkolonialismus-Diskussion wie Repräsentation, Identifikation oder Differenz hin gelesen. In einem recht hermetischen Zitierkartell geht es um die clevere Auslegung und die noch cleverere Kritik an der cleveren Auslegung.

In beiden Fällen ist Fanons Werk von der Rezeption reichlich zerfleddert worden. In der wahrscheinlich besten Fanon-Biografie hat David Macey vehement darauf hingewiesen, dass dessen Werk aus dem historischen Kontext gerissen und auf wenige Gesichtspunkte zugerichtet wurde – er ist weder bloß Apostel der Gewalt noch Vorläufer einer postmodernen Interpretation von Identität. Doch wer war eigentlich dieser Frantz Fanon? Ein Bastard, zunächst, denn er stammte gleichzeitig aus Afrika, aus Martinique, aus Frankreich, aus Algerien. Geboren wurde er im Jahre 1925 in Fort-de-France, der Hauptstadt der französischen Kolonie Martinique in der Karibik. In einer Welt, wo Hautfarbe und Status in direktem Zusammenhang standen, wurde Frantz das „schwärzeste“ von acht Kindern. Doch der kleine Frantz, dessen Eltern der oberen Mittelschicht angehörten, hielt sich für einen veritablen Franzosen. Kein Wunder in einem Land, wo Frankreich das Maß aller Dinge war und schwarze Eltern zu ihren Kindern sagten: „Benimm dich nicht wie ein Nigger.“

Im Jahre 1940 erklärte die französische Flotte in der Karibik ihre Loyalität zum faschistischen „Etat Français“ in Vichy: Martinique wurde zur Diktatur und mehr als 5.000 „arbeitslose“ Matrosen blieben als ständige Gäste auf der Insel. Wie Fanon später schrieb, gebärdeten sich diese Franzosen wie „authentische Rassisten“. Doch während in den Straßen von Fort-de-France die schwarze Bevölkerung gedemütigt wurde, lauschte Fanon in einem Privatgymnasium seinem Lehrer Aimée Césaire. Der spätere Vertreter der so genannten „Négritude“ lehrte dort – schockierend! –, dass Schwarzsein kein Makel, sondern eine besondere Gabe sei. Als der glühende Franzose Fanon 1943 genug vom Terror der Vichy-Nazis hatte, folgte er dem Ruf de Gaulles und schiffte sich mit Freunden nach Dominica ein. Von dort aus ging es nach Nordafrika in die Armee des „freien Frankreichs“. Hier machte er Bekanntschaft mit dem perfide ausgeklügelten System des kolonialen Rassismus: Die „echten“ Franzosen schauten auf alle herab, die Araber auf die Schwarzen, die Antillesen auf die Afrikaner und schließlich die Schwarzen aus dem Senegal auf Schwarze aus anderen Regionen.

Nach dem Ende des Krieges schloss Fanon auf Martinique die Schule ab. 1947 ging er in die „Métropole“, um dort Medizin zu studieren. Doch diesmal ließ sich die überhebliche weiße Fratze Frankreichs endgültig nicht mehr ignorieren. In seinen frühen Essays, die dann unter dem Titel „Schwarze Haut, weiße Masken“ erscheinen, beschreibt er minutiös, wie er dem „weißen Blick“ begegnet: „Ich maß mich mit objektivem Blick, entdeckte meine Schwärze, meine ethnischen Merkmale – und Wörter zerrissen mir das Trommelfell: Menschenfresserei, geistige Zurückgebliebenheit, Fetischismus, Rassenmakel, Sklavenschiffe und vor allem, ja vor allem ‚Y a bon Banania‘.“ Fanon hütete sich jedoch, in die Geborgenheit der Festlegungen einzulaufen. Er hätte sich der Négritude in die Arme werfen können, der Behauptung einer schwarzen Besonderheit. Ja, wir sind intuitiver, wärmer, körperlicher. Es stimmt, was ihr von uns sagt, aber wir bewerten es neu. Fanon dagegen fragt: „Was soll das Gerede von einem schwarzen Volk?“ Weiterhin betrachtet er sich als Bestandteil einer „französischen Tragödie“. 1952 heiratet er Marie-Joseph Dublé, eine weiße linke Aktivistin.

Nach seinem Studium als Psychiater entscheidet er sich für eine Stelle als Chefarzt in Blida-Joinville in Algerien – der „Stadt der Irren“, der bedeutendsten psychiatrischen Einrichtung in Afrika. Fanon hatte Erfahrung mit Patienten aus dem Maghreb. „Ich sterbe, Herr Doktor“, behaupteten algerische Migranten in Frankreich und klagten über Schmerzen überall. Die Ärzte diagnostizierten eingebildetes Kranksein. Fanon dagegen hielt das „nordafrikanische Syndrom“ für eine normale Reaktion: „Bedroht in seinem Gemütsleben, bedroht in seiner sozialen Aktivität, bedroht in seiner Zugehörigkeit, vereinigt der Nordafrikaner alle Bedingungen auf sich, die einen Menschen krank machen.“ Daher konnte Heilung nicht bedeuten, das Innere eines Menschen neu zu justieren, sondern die Bedingungen zu verändern, unter denen dieser Mensch ständig lebte.

In Blida, wo 220 algerische Männer und 165 europäische Frauen behandelt wurden, führte Fanon die Methoden der französischen Reformpsychiatrie ein, vor allem die „institutionelle Therapie“. Bei den Frauen zeigte sich schnell Erfolg – nicht so bei den einheimischen Männern. 1956, zwei Jahre nach dem Beginn des algerischen Aufstandes, stellte Fanon fest, dass die einzige Heilung im Verschwinden des Kolonialregimes bestehen konnte. Er kündigte und schrieb an Generalgouverneur Lacoste, dass Algerien sich im Status einer „systematischen Entmenschlichung“ befinde. Diese Gesellschaft müsse „durch eine andere ersetzt werden“. Fanon wird Algerier. Schon früh hat er sich der Befreiungsfront FLN angeschlossen und das Krankenhaus für Untergrundtätigkeiten benutzt: Er versteckt Widerstandskämpfer, schafft Einsatzkommandos, lehrt das Bombenbauen und bereitet die Kämpfer auf die Folter vor.

Die französische Verwaltung verweist ihn des Landes. Er geht nach Tunesien und arbeitet dort für die von der FLN ins Leben gerufene provisorische Regierung Algeriens. Besonders wichtig ist seine Arbeit in der Redaktion der Zeitschrift El Moudjahid, in der die politische Orientierung der Bewegung diskutiert wird. Er setzt aber auch seine psychiatrische Arbeit fort und schreibt sein zweites Buch: „Aspekte der algerischen Revolution“. Fanon ist zum Berufsrevolutionär geworden. Als diplomatischer Vertreter Algeriens reist er durch Afrika. Schließlich versetzt ihn die Regierung nach Accra, dem damaligen Zentrum der progressiven afrikanischen Befreiungsbewegungen, wo er die revolutionären Nationalisten trifft. Doch Fanon bleibt ein Bastard. In Tunis machen ihm die Blicke auf der Straße deutlich, welche Farbe seine Haut hat. In Guinea weigern sich seine Freunde, wichtige Gespräche in Anwesenheit seiner weißen Frau zu führen. In Italien muss seine weiße Frau dagegen die Hotelzimmer mieten, weil man ihn aus Rücksicht auf die US-amerikanischen Gäste abweisen würde.

Angesichts dieser Erfahrungen ist es kein Wunder, dass Fanon heute zum Kanon jener „postkolonialen“ Theoretiker gehört, die sich derweil in einem Leben eingerichtet haben, das sich stets „Out of Place“ abspielt – so der Titel der Autobiografie von Edward Said. Doch Fanon selbst wollte nicht in diesem Zustand verbleiben. „Er sehnte sich leidenschaftlich danach, irgendwo feste Wurzeln zu fassen“, schreibt Simone de Beauvoir in ihren Erinnerungen. Doch die hergebrachten Wurzeln wies er zurück – er wollte kein Haus beziehen, dessen Grundfesten Unterdrückung und Ungleichheit waren. Das Bedürfnis nach „Negerkultur“ hielt er für legitim, doch sie war nicht sein Ziel – er wollte kein „Gefangener der Geschichte“ sein, sondern aufrechter Humanist. „In jedem Augenblick“, schrieb Fanon, „muss ich mich daran erinnern, dass der wahre Sprung darin besteht, die Erfindung in die Existenz einzuführen. In der Welt, in der ich fortschreite, erschaffe ich mich unaufhörlich.“ Wenn man Fanons Werk jenseits der Klischees oder der Suche nach dem „richtigen“ Fanon liest, dann ist es im besten Sinne eine Werkzeugkiste, um eine Welt zu verstehen, die von globalen Abhängigkeiten und Einwanderung geprägt ist. „Die Verdammten“ ist keineswegs nur die Bibel der Dekolonisation – es ist auch ein Bericht vom Scheitern der Dekolonisierung. Das ganze Panorama der Schwierigkeiten, Fanon verschweigt es nicht: Sich schamlos bereichernde Drittweltbourgeoisien, Stadt-Land-Zerfall, ethnischer Nationalismus und Traditionalismus, Diktatur. Zudem können Fanons Kulturtheorie in den „Verdammten“, aber auch seine Analyse des Verwobenseins von „weißem Blick“ und der Selbstwahrnehmung den Marginalisierten dabei helfen, kulturelle Differenzen nicht zu verdinglichen, sondern als komplizierte Beziehungen zu betrachten. Doch vielleicht stößt er uns Heutige vor allem darauf, dass die Zustände auf der Welt nach Erneuerung und Veränderung schreien. Dafür hat er sein Leben gelassen. Als Fanon erfährt, dass er an Leukämie leidet, verstärkt er seine Tätigkeiten. Ende November 1961 kann er noch eine Ausgabe der „Verdammten“ in den Händen halten, bevor er wenige Tage später – am 6. Dezember – in einem Washingtoner Krankenhaus stirbt. Die algerische Regierung fliegt seinen Sarg nach Tunis, um ihn von dort aus ins Land zu schmuggeln. Wegen der Kämpfe wurde er zunächst nur 600 Meter von der Grenze bestattet – in Algerien, wie es sein Wunsch war.

Auf Deutsch erhältlich ist nur noch: „Die Verdammten dieser Erde“, Suhrkamp. In diesem Jahr erschien: Udo Wolter, „Das obskure Objekt der Begierde – Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung“, Unrast. Im Frühjahr 2002 erscheint bei Edition Nautilus, Alice Chekri: „Frantz Fanon – Ein Porträt“.