Durch das Land der Lügen

Land für Frieden. Das klingt so einfach. Aber Israelis und Palästinenser glauben lieber der Propaganda der Extremisten. Eine Reise durch Israel

aus Jerusalem HEIDE OESTREICH

Drei Militärkontrollen auf der Straße zwischen Tel Aviv und Jerusalem machen aus der halbstündigen Fahrt eine dreistündige. Den arabischen Ostteil Jerusalems will der Taxifahrer überhaupt nicht mehr ansteuern: „Crazy Arabs“, ruft er und komplimentiert die Gäste aus dem Auto.

Anschläge im Norden Israels, in Jerusalem, in Haifa – alle haben sie erwartet, seit die israelische Armee Mahmud Abu Hanud, einen Führer des militanten Arms der Hamas, am 23. November erschossen hat. Gerade deshalb aber ist die Stimmung verzweifelt: Zu berechenbar scheinen die nächsten Wochen. Weitere Protagonisten des palästinensischen Terrors werden hingerichtet, und die Blutrache von Hamas und Islamischem Dschihad folgt wenige Tage darauf. Die Linke in Israel duckt sich tief unter der Gewalt der Anschläge: „Ich war immer für den Friedensprozess“, sagt eine Israelin, „aber inzwischen habe ich jeden Morgen Angst, wenn meine Kinder zur Schule gehen. Das kann so nicht weitergehen.“

Die Friedensbewegung ist kaum mehr vorhanden. Nur zweihundert Menschen demonstrieren freitags vor dem Kings Hotel in Jerusalem. „Jassir Arafat hat damals in Camp David das großzügige Friedensangebot Ehud Baraks abgelehnt. Das hat der Linken in Israel den Boden unter den Füßen weggezogen“, beschreibt die Frau.

Der verbitterte Politiker

Camp David im Jahr 2000, das war der letzte Frühling im Nahost-Konflikt. 94 Prozent der besetzten Gebiete wollte Barak damals zurückgeben. Ein paar große israelische Siedlungen, die restlichen vier Prozent, sollten pragmatischerweise israelisches Gebiet werden. Zum Streit kam es über die etwa vier Millionen Flüchtlinge, die in den angrenzenden Ländern in Lagern leben. Sie sollten nach Baraks Vorstellung nicht nach Israel in ihre Heimatdörfer zurückkehren dürfen, sondern nur in die Autonomiegebiete. Arafat lehnte ab. Seitdem mehrt sich bei den Israelis der Eindruck, mit Arafat könne man keinen Frieden schließen.

Am ärgerlichsten ist der Düpierte selbst: Ehud Barak. „Arafat ist freiwillig zum Terror zurückgekehrt“ ist der bittere Schluss, den der Politiker im Ruhestand heute zieht. „Er hat nie akzeptiert, dass die Israelis ein Recht haben, hier zu leben.“ Sein Engagement im Friedensprozess, das seien reine Fensterreden gewesen. „Wissen Sie“, sagt Barak, „Wissenschaftler haben herausgefunden, dass in manchen Kulturen Lügendetektoren nicht funktionieren. Diese Menschen lügen, ohne dass ihr Blutdruck steigt wie bei anderen.“

Hat Arafat Israel betrogen? Wollen die Palästinenser die Juden immer noch ins Meer werfen? Nach Meinung Avi Primors, des ehemaligen Botschafters Israels in Deutschland und heutigen Vizepräsidenten der Tel Aviver Universität, hat Ehud Barak damals einfach schlecht verhandelt: „Er hat Arafat einen fertigen Plan hingelegt und gesagt: Unterschreib oder geh! So kann man mit Arafat nicht verhandeln.“

Der überzeugte Siedler

Doch in der israelischen Öffentlichkeit hat sich die Propagandaversion der Rechten durchgesetzt: Arafat will keinen Frieden. Unterstützt wird sie von fleißigen Menschen wie Itamar Markus. Seine Organisation Palestinian Media Watch dokumentiert die Sendungen des offiziellen Fernsehprogramms der Autonomieregierung.

Seit Beginn der zweiten Intifada im September 2000 strahle der Sender schlicht Kriegspropaganda aus, sagt Markus.

Eines der Bänder, die er präsentiert, zeigt Kinder, die ihre Mütter in den Ruinen eines von der israelischen Armee zerstörten Hauses weinen sehen. Da lassen sie Fußball und Puppe fallen und heben die ersten Steine auf. Der Aufstand der Steine gegen die Panzer beginnt, selbst die Mutter lächelt wieder und trägt Nachschub herbei.

Hat das wirklich das palästinensische Fernsehen gesendet? Itamar Markus trägt die gehäkelte Kippa, Merkmal der Religiösen. Er lebt in einer Siedlung. Die Siedlerbewegung ist es, die uns hier palästinensische Medien vorführt. Seine Siedlung ist es, die gegen UN-Konventionen verstößt, für seine Siedlungen werden Häuser wie das in dem Propagandafilm niedergewalzt. Das alles will Markus nicht diskutieren. Er will zeigen, dass die Palästinenser keinen Frieden wollen.

Der Märtyrer von Schuafat

Man kann nicht nur von Frieden reden, sagt dagegen Netta Golan. Man muss von Frieden und Gerechtigkeit sprechen. Die junge Frau im Strickmantel rattert auf der kurzen Fahrt in ein Flüchtlingslager sieben Jahre des Oslo-Friedensprozesses herunter: In der Zeit der Oslo-Gespräche von 1993 bis 2000 haben die Israelis die Anzahl der Siedlungshäuser in den besetzten Gebieten verdoppelt, obwohl etliche UN-Resolutionen dies für illegal erklären. Sie haben Umgehungsstraßen für die Siedler gebaut, die die Gebiete in kontrollierbare Blocks einteilen. „Es ist kein Wunder, dass die Palästinenser sagen: Für uns gibt es keinen Friedensprozess.“

Netta Golan ist Israelin und organisiert mit der International Solidarity Movement eine Art Wachdienst an den Kontrollpunkten zwischen Israel und den Autonomiegebieten, um Übergriffe der israelischen Armee zu verhindern. Jetzt besucht sie eine palästinensische Familie in Schuafat, einem Randbezirk von Jerusalem, dessen ärmliche Häuser als Flüchtlingslager dienen.

1948 wurden Palästinenser aus dem Westen Israels in die Altstadt Jerusalems umgesiedelt. Als die Israelis Ostjerusalem 1967 eroberten, wurden die Palästinenser von dort in dieses Lager gesteckt. Abu Ibrahim, der Onkel mit der lauten Stimme, führt hier das große Wort: „Irgendwelche Leute, die die Juden aus Russland eingeladen haben, sitzen heute in meinem Haus in Jerusalem, und ich und meine Familie sind hier: auf sechzehn mal siebeneinhalb Metern.“ Herr Bush in den USA müsse sehen, dass er mit seinem Anti-Terror-Engagement vor allem den Terror Israels bekämpfen müsse. Achthundert Palästinenser seien im letzten Jahr getötet worden. Einer der achthundert war Lo'ui al-Maliha, sein Neffe.

Mit weitaus geringerer Phonzahl als sein Onkel erzählt Lo'uis Bruder, wie der Bauarbeiter Lo'ui morgens mit seinem Auto zur Arbeit aufbrach. An einem Kontrollposten wurde geschossen. In Angst und Panik fuhr er weiter, statt anzuhalten, wie die Soldaten es befahlen. Er wurde erschossen. Woher der Bruder das so genau weiß? Augenzeugen haben es gesehen. Palästinensische Augenzeugen.

Glaubwürdig oder nicht – wenn Menschenrechtsorganisationen so etwas dem Militärstaatsanwalt melden, bekommen sie zu hören, man befinde sich in einer kriegsähnlichen Situation, da könne man nicht wegen jeder Kleinigkeit eine Ermittlung einleiten. Der Bruder von Lo'ui gilt nun als Märtyrer, als Held des Lagers. Bilder von Märtyrern zieren die kahlen Häuserwände. „Die Palästinenser fühlen sich eingesperrt von den Israelis. Sie haben den Eindruck, man wolle sie so lange terrorisieren, bis sie von allein auswandern“, sagt Netta Golan. Sie wandern nicht aus. Sie werden militant.

Auf der Straße schreien Knirpse den ausländischen Besuchern „Ussama Bin Laden!“ entgegen. Als das Auto davonfährt, fliegen Steine. Solange der Frieden nur auf Kosten der Palästinenser zu haben ist, gibt es eben Krieg.

Nur so lange?

Nicht für Schaul Goldstein, den Siedler. „Schauen Sie in die arabischen Schulbücher der Autonomiebehörde“, sagt er. „Da steht: ,Es gibt keinen Platz für einen jüdischen Staat im Nahen Osten.‘ Arafat redet auf Englisch über Frieden und predigt auf Arabisch Krieg. Ich kann Arabisch, ich höre es!“ Am Gürtel des Bürgermeisters der Siedlung Gusch Etzoin klemmt ein Pieper. Der Pieper sendet eine neue Schlagzeile: „Schießerei im Norden“ meldet Goldstein mit unbewegter Miene. So leben wir hier eben, sagt seine Miene. 16 Leute habe seine Siedlung im vergangenen Jahr verloren. Dann folgt eine lange Geschichte über sein Land, das Land der Verheißung: „Schon immer haben Juden dafür gebetet, nach Jerusalem zu gehen. Hier ist mein Land, wohin sonst soll ich gehen? Die Araber dagegen habe 28 Länder, die Hälfte Asiens, ein Drittel Afrikas.“ Siedlerlogik.

Dabei habe er gar nichts dagegen, einen Teil der Siedlungen zu räumen, beteuert Goldstein: „Sie können mein Haus haben.“ Aber die Araber wollen ja alles. Deshalb bekommen sie keinen Zentimeter. Deshalb geht der Terror weiter, deshalb werden die Autonomiegebiete regelmäßig gesperrt, und die Palästinenser können nicht zur Arbeit fahren.

Der Statthalter der Palästinenser

„Wenn die Israelis die Palästinenser arbeiten ließen, würden keine Steine mehr fliegen“, sagt Ziad Abu Ziad, palästinensischer Minister für Jerusalemfragen. Eine Schikane nach der anderen zählt er auf: Das Parlament kann nicht mehr zusammenkommen, manchmal wird sogar Ministern die Fahrt zu Kabinettssitzungen verwehrt. Der Terror habe schließlich erst begonnen, seit die Israelis anfingen, gezielt militante Palästinenser zu töten, sagt Abu Ziad. Kein Wort darüber, dass die palästinensische Autonomieregierung ihrerseits mehr als zögerlich bei der Terrorbekämpfung ist. Stattdessen Polemik: „Wie sollen unsere Polizisten Terroristen fangen, wenn sie nicht zu ihrem Arbeitsplatz fahren dürfen?“

Die Propagandamaschinen beider Seiten heizen einen Konflikt an, dessen Lösung eigentlich so einfach aussieht: Alle wollen angeblich koexistieren. Die Pläne dafür sind da. Verhandelbar scheint das Rückkehrrecht für die vier Millionen Flüchtlinge. Es gibt eine Menge Palästinenser, die verstehen, dass nicht alle vier Millionen Flüchtlinge zurückkehren können, weil dann aus dem jüdischen Staat ein muslimischer würde. Auch dafür gibt es Lösungsvorschläge. Dass ein Großteil der Siedlungen aus den autonomen Gebieten verschwinden muss, scheinen sogar einige Siedler einzusehen. Eine Mehrheit der israelischen Bevölkerung sowieso.

Aber niemand in diesem Land käme auf die absurde Idee, der anderen Seite dies auch zu glauben.

Die Autorin bereist mit einer Gruppe von KollegInnen derzeit Israel und die palästinensischen Gebiete