Glücksritter des rechten Augenblicks

Gerade mal 40 Prozent der deutschen Einkommen, schätzt der Wuppertaler Soziologe Sighard Neckel, werden überhaupt noch in einem Beruf verdient. Der Rest wird oft genug abgezockt, an der Börse, per Erbschaft, auf Staatskosten – oder in der Tombola

von GISA FUNCK

Im Hintergrund hört man das Geräusch eines ratternden Druckers, die Männerstimme darüber klingt euphorisch: „Wer arbeitet“, verhieß sie bis vor kurzem im Radiospot der deutschen Post AG, „hat keine Zeit, Geld zu verdienen!“ Wohl wahr. Denn auch wenn die Kurse jüngst gefloppt sind und weder die Post noch andere Aktienanbieter sich derzeit an die Öffentlichkeit trauen: Mit eigener Hände Arbeit wird heute wirklich niemand mehr reich. Da mag der Kanzler noch so lautstark gegen ein „Recht auf Faulheit“ wettern. Gerade mal 40 Prozent der deutschen Einkommen, schätzt der Wuppertaler Soziologieprofessor Sighard Neckel, werden überhaupt noch in einem Beruf verdient. Der Rest wird oft genug abgezockt, an der Börse, per Erbschaft und auf Staatskosten. Oder (angesichts kränkelnder Kurven besonders gern) in der Tombola.

Neckel attestiert einen Wandel weg von der Leistungsgesellschaft hin zu einer „Gelegenheitsökonomie“. „Hören Sie Radio!“, empfiehlt der Soziologe: „Permanent werden Sie aufgefordert, irgendetwas gewinnen zu sollen, sodass in der Gesellschaft der Eindruck entstehen kann: Wer berufstätig ist, ist eigentlich ziemlich der Dumme!“ Nicht der Ehrliche, wie „Tagesthemen“-Guru Wickert einst vermutete, ist also nach Ansicht Neckels in der Berliner Republik der Gelackmeierte. Es ist vielmehr der Tüchtige.

Im aufgebrochenen Kosmos von Internet und Globalisierung sind Trends schwer vorauszusagen. Steiler und unvermuteter als zuvor sausen die Gewinnkurven nach oben. Und krachen ebenso steil und unvermutet zu Boden. Fleiß lohnt sich da nicht, und Wissen ist schnell veraltet. Stattdessen sind Spielerqualitäten gefragt. Heute muss man Surfen können und nicht mehr geduldig Tellerwaschen. Heute sollte man ein Switcher sein, leichtmütig, leichtfüßig und schnell, überall hingereist und nirgendwo verwurzelt – und keinesfalls: ernsthaft. Denn sonst riskiert man den Spieleinsatz nicht.

„Was man auf jeden Fall vergessen sollte“, rät einem folgerichtig Jauchs erster Millionengewinner, der Geschichtsprofessor Eckart Freise, „das ist, dass es um richtiges Geld geht. Nur dann hat man eine Chance!“ Wer lange grübelt und paukt, wird hingegen schon am Start überholt. Was zählt, ist allein die Gunst der Stunde. Die darf man nicht verpassen. Doch wie man sie nutzt, wird immer seltener hinterfragt.

Längst hat das Bildungsbürgertum seine Hoheit an die Glücksritter des Augenblicks eingebüßt, die weder zu wissen brauchen, wer Shakespeare ist, noch sich für ihre Wissenslücken schämen müssen. Die Zockergemeinde des Neuen Marktes, in der sich eine Erbengeneration tummelt, die Prognosen zufolge bald über 5,5 Billionen Mark verfügen wird, fragt nicht nach altgedienten Klassencodes. Ihr ist es gleichgültig, ob man sein Vermögen nun bei Jauch oder mit Yahoo!-Aktien gemacht hat, ob man Professor oder Prolet ist. Hauptsache: Man ist zahlungskräftig. Und so herrscht die paradox anmutende Situation, dass einerseits die Arbeitsstellen immer knapper werden, während sich andererseits die Zufallsgewinne häufen.

Nie zuvor war es so leicht, reich und berühmt zu werden. Nie zuvor aber war es gleichzeitig so ungerecht. Das deutet schon die Vornamendichte in der VIP-Lounge an. Ob Verona oder Berti, ob Alex oder Jenny: Der Star ist auf Kneipenkumpelformat geschrumpft. Und niemand erwartet von ihm noch, dass er irgendetwas besser kann oder macht als sein Fan.

Im Gegenteil. Musste man bei EWG oder der Große Preis noch relativ viel wissen, um relativ wenig Geld zu gewinnen (in ersterem Fall gab’s eine Gratisfahrt in eine europäische Hauptstadt, in letzterem als Rekordsumme exakt 48.600 Mark), reicht im deutschen Fernsehen mittlerweile bereits die rein physische Anwesenheit, um Millionär zu werden („Die Lottoshow“). Erfolg ist zum Roulettespiel avanciert, und Glück heißt das wichtigste Auswahlkriterium.

Die einen, wie etwa RTL-Chefredakteur Hans Mahr, begrüßen diese Entwicklung als eine Demokratisierung des „Promi-Himmels“. Die anderen, wie der Journalist Jochen Hörisch, sehen darin eher eine Banalisierung des Heldentums. „Prominente sorgen, weil sie so prominent wie inkompetent sind, bei vielen nichtprominenten Inkompetenten für Entspannung“, frotzelt Hörisch. Neckel spricht derweil schon vom regelrechten „Privileg, Leistungen erbringen zu dürfen“. Entlohnt wird dieses Privileg allerdings besonders im Sozial- und Kulturbereich schlecht. 4.200 Mark brutto im Monat erhält etwa ein Altenpfleger. Wer mag es ihm verdenken, wenn er sich nebenbei als Quizkandidat verdingt, um mit einer Pilawa-Frage der Güte „Was bedeutet das spanische Wort ‚Amigo‘ auf Deutsch?“ sein Gehalt quasi im Schlenkergestus zu verdoppeln?! Der Ansturm auf die deutschen Spielshows steigt, mögen die Einschaltquoten auch ebenso rapide sinken.

Beim Spitzenreiter „Wer wird Millionär“ kann es da vorkommen, dass an nur einem Wochenende bis zu 800.000 Bewerber anrufen, vom Zuklicken im Internet ganz zu schweigen. Regelmäßig, so hört man aus den RTL-New-Media-Redaktionen, brechen hier die Server zusammen auf Grund zu vieler virtueller Mitspieler. Schließlich wollen es immer mehr Deutsche auf den Ratestuhl schaffen, dem in der säkularisierten Postmoderne eine pseudoreligiöse Aura anhaftet. Der Quizmaster wirkt dabei als eine Art Schicksalsstifter, der über Nacht No-Names zu Sterntalern erhebt.

Entsprechend erwog der Finanzausschuss des Bundestages vor der Sommerpause sogar schon die Revision der 1972 festgesetzten Glücksspielregelung. Bislang nämlich müssen Quiz- und Lottogewinne nicht versteuert werden. Nun aber haben sie nach Meinung vieler Politiker eine Dimension erreicht, die Abgaben verlangen beziehungsweise in der Politik ganz eigene Begehrlichkeiten wecken. „In den Shows steht nicht mehr die Unterhaltung im Mittelpunkt, sondern das Geldverdienen“, resümiert SPD-Mann Peter Enders den Stand der Debatte. Er wittert bereits eine „Gesetzeslücke“.

Indes, mag man fragen, haftete dem sozialen Aufstieg nicht schon von jeher der Ruch von Willkür an? „Natürlich war das Leistungsprinzip ungerecht, so wie es angewandt wurde“, räumt Sighard Neckel ein, „aber es trägt einen idealen Maßstab in sich.“ Anders gesagt: Im Gegensatz zu den 70er- und 80er-Jahren, in dem die Konvention noch ein sozial verträgliches Auftreten verlangte, macht der Karrierist 2000 keinen Hehl mehr aus seiner egoistischen Schlitzohrigkeit. Und wenn er sich vor laufender Kamera überhaupt noch mit jemandem zusammen als Team zeigt (etwa in der Pilawa-Show), dann nur deshalb, weil das dem Moderator Gelegenheit gibt, beide Kandidaten gegeneinander auszuspielen. Dem Wort „Solidarität“ haftet allenfalls nostalgischer Klang an. Und längst ist in den meisten Shows der Helfer zum Hemmschuh degradiert. Besser man bedient sich seiner – siehe „Wer wird Millionär“ – höchstens als Joker und entsorgt ihn schnellstmöglich.

Erfolg jedoch, der sich allein dem Zufall verdankt, ist nicht nur kurzfristig. Er bietet Verlierern auch kaum Trost. Denn wenn prinzipiell jeder ein Gewinner sein kann, kann keine Ausrede einen Misserfolg lindern. Genau darin liegt für Neckel seine spezielle Brisanz: „Wenn eine Gesellschaft den Eindruck vermittelt, dass für das Weiterkommen die eigenen Anstrengungen keine Rolle mehr spielen, sondern nur die Frage, ob man zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle ist“, warnt er, „dann wird sich auch Neid nicht mäßigen können, sondern schlägt in Wut um. Dann wachsen natürlich Aggressionen. Und ich glaube, dass wir das auch beobachten können.“