Stiehl mir nicht die Zeit

Zeiterfassung ohne eigene Uhr

Menschen ohne eigene Uhr haben’s auch nicht leicht. Ich will aber keine Uhr! Uhren verbreiten irgendwie Hektik. Und wofür gibt’s die öffentliche Zeiterfassung? Wer rauskriegen will, wie spät es ist, muss die Zeit eben bei anderen schnorren. Ihnen die Zeit stehlen. Die Werbezeituhr ist eine prima Erfindung; die bei uns um die Ecke aber wurde gerade abgebaut, eine große Sauerei. Die nächste ist gegenüber der Kreuzberger Ankerklause, aus selbiger aber absolut uneinsehbar, was viel Mitschuld daran trägt, dass man oft nur an der Frequenz der Nachtbusse das Verrinnen halber Stunden ablesen kann. Was? Schon halb drei – hab ich den Nachtbus wohl übersehen.

Die Berliner Zeit lief ja bis 1989 recht gemächlich, meinen einige. In Mitte hat man die Uhren inzwischen so rasant vorgestellt, als gelte es ganz viel aufzuholen. Früher galt der Langschläfer und Zeitverschwender hier als hip, heute ist er der Wendeloser.

Ganz schlimm ist das allmähliche Verschwinden der Bahnhofsuhr. Shopping Center und Kaufhäuser meiden seit jeher die Uhr, da ist die Lage an modernisierten Bahnhöfen nur konsequent. Jetzt hat sogar Spediteur Klaus Zapf die Nase voll und fordert in kleinen Anzeigen im Tagesspiegel Herrn Mehdorn auf, an der Front des Ostbahnhofs neben Lidl-Reklame und McDonald’s endlich eine Uhr aufzuhängen. Sehr korrekte Forderung. Ich habe trotzdem den Verdacht, dass Zapf aus Geiz in seiner Zentrale in der Köpenicker keine Uhr hat und früher die DDR-Zeit mit einem Fernglas jenseits der Spree einsehen konnte. Vor Erfindung von Sommer- und Winterzeit gab es Verhandlungen zwischen BRD und DDR – man wollte verschieden gehende Uhren in Berlin verhindern.

Letztens in Ägypten wurde die Zeit nur einen Tag nach Ankunft um eine Stunde umgestellt, und die Hotelkellner behaupteten – wohl weil wir sauer waren, dass das Büfett erst eine Stunde später beginnen sollte –, die Regierung habe diesen unerwarteten Schritt erst einen Abend zuvor in Nil TV angekündigt. Dort stellt man die Zeit übrigens total obrigkeitsstaatlich und radikalislamisch einfach freitags Ende September um.

Bei uns gibt es Uhrenkontrolleure, die nach der Zeitumstellung tagelang durch die Stadt laufen und die öffentlichen Uhren kontrollieren. Für jede falsch tickende Uhr zahlt man ihnen eine bescheidene Prämie.

Beim Radfahren die Zeit rauszukriegen ohne anzuhalten, ist meine Spezialität. Besonders bei mittelalten Mercedes-Modellen ist die Uhr im Armaturenbrett so groß, dass man sie auch mit 15 km/h noch lesen kann. Wenn es ganz wichtig ist, gucke ich auch in Opel, aber die Uhren sind – wenn überhaupt vorhanden – kleiner und dauernd woanders versteckt.

Passanten auf die Uhr zu schauen im Vorbeigehen, ist auch nicht einfach. Bei vielen rutscht der Mantel über die Armbanduhr. Wenn sie sitzen, halten sie die Arme oft so ungünstig, dass man einfach nicht die Uhr sieht – oder sie bemerken einen, wie man den Kopf zu Boden dreht. Fragen nach der Uhrzeit finde ich schrecklich unangenehm. Warum Telefonzellen nicht die Zeit anzeigen, obwohl sie Telefonkarten lesen können, verstehe ich auch nicht.

Ich hatte mal eine sehr schöne Uhr mit rotem DB-Logo von der Bahn. Da ich sie aber nie am Handgelenk tragen wollte, ist sie mir bei der Berlinale aus der Jacke gerutscht und seitdem verschwunden. Noch heute sagt die Uhrschenkerin manchmal mit leichtem Tadel: Eigentlich schade, dass du deine Bahnuhr verloren hast.

Kurz vor der Euro-Umstellung versuchen viele noch, ihr Schwarzgeld umzurubeln. Wer ein Nummernkonto in der Schweiz hat, kauft sich gern Schmuck oder teure Luxusuhren, die ja vor Weihnachten sowieso dauernd im TV beworben werden. Weil Uhren keine Zinsen bringen, holen sich ganz Knauserige vom Schweizer Staat die Mehrwertsteuer zurück. Dann verzollen sie die Uhr bei der Einfuhr aber nicht. Die Schweizer rufen deshalb gern ihre Kollegen in Deutschland am Flughafen an, wo der arme Schwarzgeldwäscher prompt gefilzt wird.

Versteht eigentlich jemand, warum es (nicht nur bei Helmut Höge) Normalzeit heißt? Wenn ich früher in den Frankfurter Hauptbahnhof einfuhr, hat mich jedes Mal die Reklame der Firma TN kirre gemacht, die einer der größten Hersteller von öffentlichen Uhren ist oder war. TN heißt Telefonbau und Normalzeit. Ach so, was auch seit Jahren schmerzlich fehlt, ist die Uhr der Stern- und Kreisschifffahrt am Treptower Hafen. Wie sollen die Leute denn ihr Schiff kriegen?

Ganz tragisch und geradezu emblematisch ist der Fall der Bahnhofsuhr von Bologna. Seit dem Anschlag durch Neofaschisten mit vielen Toten streitet man dort darüber, ob die große Bahnhofsuhr repariert werden soll. Einmal schon wurde sie wieder angestellt, dann aber stoppte man sie wieder genau bei der Sekunde des Anschlags, weil sie ein ewiges Mahnmal sein soll. In Kreuzberg beim Mariannenplatz gibt's übrigens eine Uhr, die seit den letzten Maifestspielen kaputt ist. Revolutionären sagt man ja nach, sie würfen gern die Uhren ein.

ANDREAS BECKER