Anything shows

Der Comiczeichner Martin tom Dieck mixt mit Hilfe der Texte seines Szenaristen Jens Balzer Philosophiegeschichte und Semiotik – auch in „Neue Abenteuer des unglaublichen Orpheus“

von MARTIN ZEYN

Erstes Bild: Eine Düne. Zweites Bild: Ein Fernseher, darunter Bücher. Bild oben: Ein alter Musiker mit einem Fez auf dem Kopf spielt Laute. Bild unten: Auf der Mattscheibe ist der Musiker zu sehen. Später geht der Mann hinunter, er macht sich Tee. Währenddessen schweben Flügel aus der Rückfront des Fernsehers und ein engelhaftes weibliches Wesen taucht auf, um den Mann vor dem Fernseher zu küssen. Jetzt aber schaltet der Musiker seinen Fernseher an, worauf die Frau im anderen Bild davongetrieben wird.

Eine Peter-Pan-Geschichte? Eine Arbeit für das Hauptseminar Simultaneität, Fachrichtung Semiotik? Martin tom Diecks Comic „Die schweigende Laute“, erschienen in der wunderbaren Kurzcomicreihe R-24 bei Reprodukt, ist nur 22 Seiten lang und hat exakt 44 Bilder. Zwei Geschichten laufen parallel. Oben die des Musikers, unten die des Engels und des jungen Mannes. Offenbar wirken die Geschichten aufeinander ein. Zuerst hat es den Anschein, als wäre die obere Bildreihe eine Folge der unteren, dann wieder umgekehrt. Beide können aber auch für sich gelesen werden. Beim Zurückblättern ergeben sich neue Zusammenhänge: Die traditionelle Leserichtung von unten nach oben ist nur mehr eine von mehreren möglichen. Fantechnisch ausgedrückt: Für einen kurzen Comic ziemlich viele Geschichten auf wenigen Seiten.

„Beim Zeichnen eines Bildes nicht zu wissen, was im nächsten passiert, erzeugt eine ganz bestimmte Spannung“, hat Martin tom Dieck in einem Interview mit dem Magazin Strapazin gesagt. Der 1963 in Oldenburg geborene Autor ist ein Meister der erzählerischen Vieldeutigkeit, die sich allerdings hinter einer vordergründigen Langsamkeit, ja Nüchternheit versteckt. Für die Berliner Seiten der FAZ zeichnete Dieck mit seinem Szenaristen Jens Balzer die „Neuen Abenteuer des unglaublichen Orpheus“, die jetzt auch als Buch erschienen sind. Jeden Tag sechs Panels über Gilles Deleuze und seine Philosophenfreunde Foucault, Lacan und Barthes sowie als Special Guests Buster Keaton und Figuren aus dem legendären Zeitungscomic „Krazy Kat“. Anekdoten aus dem Leben der großen Toten, Comicgeschichte, Anspielungen auf Philosopheme, die zu Witzen genutzt werden, etwa Foucault als Tierquäler, der ständig den Titel seiner legendären Untersuchung „Überwachen und Strafen“ variiert; oder Lacan als Lucy von den Peanuts, wenn er im Bretterverschlag mit dem Schriftzug „The doctor is in“ sitzt.

Am Beginn aber stehen sechs schwarze Panels, die letzten drei mit weißen Einsprengseln. Für einen Daily Strip mindestens fünf zu viel. Die Information dieser Bilderfolge ist kein Inhalt, sondern eine verzwickte semiotische Fragestellung: Was ist der Unterschied zwischen schwarz und schwarz? Der Comic löst diesen Zeichenknoten. Das Auge erfindet Handlung, wo keine ist: anything shows.

„Ich bin fasziniert vom Raum zwischen den Panels“, beschreibt Dieck seinen Umgang mit diesem zentralen Stilmittel des Comics – der Inszenierung von Zeit auf dem schmalen Raum einer Seite. Normalerweise werden Zwischenräume nur genutzt, um Handlung zu erfinden oder zu beschleunigen. Kampfszenen in Superheldencomics sind reine Geschwindigkeit. Dieck, der mit dem amerikanischen Genre nichts anfangen kann und spät erst mit Comics in Kontakt kam, scheint viel mehr daran interessiert zu sein, Zeit intermittierend darzustellen. So erzeugt er freie Rhythmen, statt dem Ablauf der Story zu folgen. Er hopst zwischen den Bildern und manchmal auf der Stelle. Er spielt.

Natürlich wirkt sich das auf die Figuren aus. Psychologie heißt doch, einen direkten Erklärungszusammenhang zwischen Person und Handlung herzustellen. Der fehlt bei Dieck. Seine Figuren agieren somnambul, sie nehmen hin, was kommt, sei es noch so irreal oder überraschend. Der TV-Engel in „Die schweigende Laute“ – das ist Traumkitsch. Er wäre schwulstig, wenn Dieck darauf hinweisen würde, hier handle es sich um irreale Wunschbilder. Dieses unsichere, vergewissernde Moment fehlt bei Dieck. Er zeichnet traumwandlerisch – und streng organisiert. Mehrere seiner Arbeiten sind wortlos. Rein mit Bildern zu erzählen, der Logik und dem Rhythmus des Comics zu folgen, das versuchen viele Autoren. Martin tom Dieck gelingt es.

Martin tom Dieck/Jens Balzer: „Neue Abenteuer des unglaublichen Orpheus“. Arrache Coeur, 2001, 60 S., 15,34 € Martin tom Dieck: „Die schweigende Laute“, Reprodukt, 2000, 2,56 €