„Ich will der Herr der Bilder sein“

Für Martin Scorsese, mit dem er kürzlich „Gangs of New York“ gedreht hat, ist Michael Ballhaus der beste Kameramann der Welt. Er hat mit Fassbinder gefilmt und mit einer einzigen Kreisfahrt Michelle Pfeiffers Karriere lanciert. Ein Gespräch über Bildkomposition, Herumgewackel und Leonardo DiCaprio

Interview KATJA NICODEMUS

taz: Herr Ballhaus, Ihr Markenzeichen ist eine Rundfahrt der Kamera um 360 Grad. Haben Sie diese Bewegung erfunden, um damit so viel wie möglich über den Raum zu erzählen, ohne dass man ihn zerschneiden muss?

Michael Ballhaus: Auf jeden Fall. Für mich ist die Kreisfahrt die optimale Definition des Standortes einer Person. Weil sie tatsächlich den ganzen Raum mitbeschreibt. Ich möchte, dass der Zuschauer, nachdem er einen Film gesehen hat, der in einer Wohnung spielt, in der Lage sein könnte, zu beschreiben, wo die Tür ist. Dass er weiß, wo es zum Bad oder zur Küche geht. Dass er sich ein bisschen auskennt und das Gefühl hat, mit in diese Umgebung hineinzugehören.

Diese Kreisfahrt haben Sie 1973 zusammen mit Fassbinder zum ersten Mal bei „Martha“ eingesetzt. Danach dann immer wieder, aber stets überlegt. Inzwischen wird dieses Stilmittel aber von jüngeren Regisseuren inflationär kopiert.

Mir fällt tatsächlich auf, dass diese Fahrt mittlerweile sehr viel zitiert wird, deshalb verwende ich sie weniger und weniger. (lacht) Ich muss mir langsam was Neues ausdenken. Man muss nicht in jedem Film um jeden Preis eine 360-Grad-Fahrt drinhaben. Wenn es richtig ist für die Situation, dann tue ich es gern, weil ich die Bewegung als solche einfach sehr mag.

Ein weiteres auffälliges Stilmittel während Ihrer Fassbinderphase sind Rahmen und Unterteilungen des Bildes. War das eigentlich Fassbinders Vorgabe?

Unsere Arbeit hat sich nach und nach entwickelt. Am Anfang war er natürlich sehr dominant und sehr prägend, hat sehr viel und sehr genau vorgegeben. Bei den Dreharbeiten von „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ gab es dann eine Situation, in der ich nicht genau das Bild erreicht habe, das er haben wollte. Als er das einforderte, sagte ich: „Danke schön, das ist nicht mein Job. Wenn du jemanden willst, der nur deine Ideen ausführt, musst du dir einen anderen suchen. Wenn ich mit dir arbeite, muss ich auch meinen Rhythmus in die Geschichte einbringen.“ Es gab dann eine echte Auseinandersetzung, und ich bin gegangen. Das war unser zweiter Film, und diese Klarstellung hat unsere Zusammenarbeit dann durchaus weiter bestimmt.

Es ist ja so, dass ich immer eine bildliche Konzeption für eine Szene habe. Seitdem kam er dann und fragte mich, was ich mir dabei gedacht habe. Dann dachte er einen Moment nach und versuchte immer, noch einen drauf zu setzen. Das ist ihm auch oft gelungen. Zum Schluss waren wir uns dann natürlich sehr, sehr einig und wussten auch, was wir wollen und welche Bewegungen wir mögen.

Nach vierzehn gemeinsamen Filmen kam es dann zum Bruch. Irgendwann später haben Sie gesagt, dass Sie es auch als eine Art von Befreiung empfunden haben, diesen verinnerlichten Vorstellungen nicht mehr entsprechen zu müssen, und mal wieder einen Film aus der Hüfte drehen zu können.

Mit Fassbinder zu arbeiten, war wirklich so, als ob man drei Filme mit jemand anderem macht, wegen der geballten Energie und Anspannung, die in dieser Arbeit drinsteckte. Nach so vielen Jahren war es dann einfach genug.

Die unterschiedliche Auffassung von Kameraarbeit in den USA und Deutschland bringen Sie durch Bezeichnungen auf den Punkt: In den Staaten ist man Director of Photography, in Deutschland setzt der Kameramann eher die Ideen des Regisseurs um. Andererseits waren Sie doch bei Fassbinder durchaus eine Art Director of Photography?

In den späteren Filmen auf jeden Fall. Am Anfang war eher er es, der sagte, was er haben wollte. Er hatte ja auch tolle Ideen. Ich wurde ja nie gezwungen, etwas zu machen, was mir gegen den Strich ging. Wir haben zum Beispiel endlos darüber gesprochen, wie man Gewalt zeigt. Wenn Fassbinder mal nicht an den Set kam, konnten wir eine Szene auch mal ohne ihn drehen, weil wir so aufeinander eingestimmt waren.

Sie haben danach fast ausschließlich in Amerika gearbeitet. Da sagten Sie 1984 in einem Interview, dass Sie es als problematisch empfinden, dass der Kameramann dort die Kamera nicht selbst schwenkt. Sie haben immer wieder versucht, sich durchzusetzen, aber irgendwann hatten Sie dann auch Ihren „Operator“. War das ein Lernprozess? Haben Sie sich der Gewerkschaft gebeugt?

Der erste Film, bei dem ein Operator engagiert war, war für mich 1986 „The Color of Money“ von Martin Scorsese. Es war der erste Film, den ich im Einflussbereich einer großen Gewerkschaft gedreht habe. Da hatte ich dann das Glück, dass es ein Kollege war, der sehr offen war. Er hat auch eingesehen, dass ich die Kamera noch manchmal selbst führen wollte, besonders in schwierigen Momenten. Dann habe ich mir nach und nach einen Operator herangezogen, der nach drei Filmen zum ersten Mal selbst schwenken durfte. Zum Schluss war er wirklich so gut, dass ich auch keine Entzugserscheinungen mehr hatte, die am Anfang natürlich sehr stark waren. Später habe ich mit meinem Sohn gearbeitet, und da war es dann so, als ob ich selbst die Kamera halten würde.

Sie waren schon immer ein großer Freund der Handkamera. Wie finden Sie es, dass sie durch die digitale Technik in den letzten Jahren unglaublich in Mode gekommen ist?

Es hat teilweise etwas sehr Beliebiges, und ich muss sagen, dass es etwas ausgeartet ist. Mit Lars von Triers „Breaking the Waves“ wurde das Herumwackeln ja plötzlich schick. Ich finde das keine so tolle Entwicklung. Es entbindet den Kameramann ja auch davon, wirklich präzise Bilder zu komponieren. Man kann sie natürlich auch mit der Handkamera machen, aber dann muss man sich schon etwas dabei denken. Ich habe durchaus etwas übrig für eine sensible, emotionale Kamera, aber dieses Gewackel ist manchmal schrecklich.

Wenn Sie an Ihre Videoclips für Madonna, Prince oder Bruce Springsteen denken, ist das für Sie der höchste Grad von Präzision?

Das würde ich nicht sagen. Es hat eher mit Timing zu tun. Man weiß, man hat für einen Schuss nur soundsoviele Sekunden, und das muss reichen. Aber es hat weniger mit Komposition zu tun. Mir hat es trotzdem immer ungeheuren Spaß gemacht, mich diesem extrem strengen Zeitrahmen zu stellen.

Was reizt Sie besonders an der Arbeit mit Martin Scorsese, dem zweiten wichtigen Regisseur Ihrer Karriere? Sie haben mal gesagt, er sei ein Regisseur, der bereits in Bildern denkt. Wie viel Freiraum bleibt da noch für Sie?

Das ist eine Frage, die ich mir oft selbst gestellt habe. Scorsese sagt ja nicht, dass das Bild so und so aussehen muss. Was er vorgibt, ist der Rhythmus einer Szene. Er macht sich kleine Notizen an den Rand der Szene und schreibt da Close up, Fahrt oder Schwenk hin. Wie dann die Bilder aussehen, welche Beleuchtung sie haben, welche Brennweite ich benutze, was der Hintergrund ist, welche Farben ich verwende – das sind alles meine Entscheidungen, und da mischt er sich auch überhaupt nicht ein. Sobald er sein Spickzettelchen abgegeben hat, ist mir alles überlassen. Das Schöne ist, dass die Bilder, in denen ich denke, kongruent mit seinen Vorstellungen und seiner Fantasie sind.

Scorsese ist ein Schnittfetischist. Sind Sie manchmal überrascht über das, was im Schneideraum entsteht?

Oh ja, er ist in dieser Beziehung so genial, bei ihm geht es manchmal um Millisekunden. Er arbeitet ja auch monatelang im Schneideraum. Zum Beispiel sitzt er jetzt seit Ewigkeiten an „Gangs of New York“, der ja eigentlich vor Weihnachten rauskommen sollte, und er sagt einfach: „Ich brauch noch zwei Monate.“ Als ich „Goodfellas“ zum ersten Mal im Schneideraum gesehen habe, einen Film, den ich mir sehr genau vorstellen konnte, war ich dann trotzdem völlig überrascht über den ungeheuren Sog und den Rhythmus der Bilder.

„Gangs of New York“ haben Sie sich im Vorfeld als eine Mischung zwischen „Goodfellas“ und „Age of Innocence“ vorgestellt. Ist er denn so geworden?

Ja, schon. Es ist eigentlich mehr „Age of Innocence“, nur in Downtown, also mit armen Leuten und natürlich anderen Konflikten. Der Film ist nicht ganz so entfesselt wie „Goodfellas“, der auch ein sehr rauer, schmutziger Film ist. „Gangs of New York“ hat eher eine große Ästhetik, eher die Uptown-Ästhetik von „Age of Innocence“.

Wenn Sie schmutziger kleiner Film sagen, schwingt da eine gewisse Zärtlichkeit mit, die man auch mithört, wenn Sie über „After Hours“, Ihren ersten Scorsese-Film, sprechen.

Ich fand das für die Zeit das Optimum. Bei „After Hours“ war Scorsese 1984 in der Krise, er hatte fünf Jahre keinen Film gedreht. Die Studios hatten Angst, ihm Geld zu geben. Dann kamen Freunde mit diesem kleinen Projekt zu ihm. Die Geschichte gefiel ihm und er wurde gefragt, ob er das in vierzig Nachtdrehs schafft. Er sagt: „Da müsst ihr den Ballhaus fragen.“

Dann habe ich mich eine Woche mit der Shotlist hingesetzt und überlegt, ob ich sechzehn Einstellungen pro Nacht drehen kann. Das waren auch ziemlich komplizierte Sachen. Ich weiß noch, in der ersten Nacht haben wir die Einstellungen besprochen, dann ging er in seinen Wohnwagen. Nach einer halben Stunde hatte ich alles eingerichtet. Er meinte dann, dass er normalerweise vier Stunden warten muss. Ab da hat er den Set dann nicht mehr verlassen. Das war natürlich eine schöne Erfahrung, ihm die Möglichkeit zu geben, einen Film zu machen, der ihn zurückgebracht hat. Das nächste Angebot war dann eben „The Color of Money“. Und das waren dann wieder zehn Millionen.

Eine Frage zu Ihrem Verhältnis zu Schauspielern. Im Grunde war es Ihre Kreisfahrt ums Klavier in „The Fabulous Baker Boys“, die die Karriere der damals noch unbekannten Michelle Pfeiffer lanciert hat. Ist das ein Unterschied zu jemandem, der schon Image geworden ist?

Wenn man beispielsweise den ersten Film mit Paul Newman macht, dann hat man schon viele Filme mit ihm gesehen. Dann gibt es schon ein Bild. Und dieses Bild möchte man erhalten. Die blauen Augen, dieses Gesicht, dieser Charakter, wenn ich da so gut bin wie meine Kollegen in fünfzig anderen Filmen, dann bin ich gut. Umgekehrt gibt es zum Beispiel jemanden wie Michelle Pfeiffer, die mir in den vier Filmen, die sie vorher gemacht hat, nicht aufgefallen oder entgegengesprungen ist. Da muss man natürlich etwas anderes versuchen. Ich habe mir für sie einen anderen Beleuchtungsstil ausgedacht als meine Kollegen vorher, die sie immer sehr weich und schön aufgenommen haben. Ich wollte sie etwas härter und rauer für diese Rolle und diese Figur. So versuche ich, mich auf die Person und die Geschichte einzustellen.

Es gibt ja das Phänomen, dass auf der Leinwand etwas vorhanden ist, das erst durch die Kamera erzeugt wird. Billy Wilder findet zum Beispiel bis heute kaum Worte, um zu beschreiben, was sich zwischen der Kamera und Marilyn Monroe abgespielt hat. Kennen Sie dieses Glamour-Phänomen, das sich dann ja auch Ihrer Kontrolle entzieht?

Ich kann das sehr gut nachempfinden und habe es jetzt gerade bei meinem letzten Film mit Leonardo DiCaprio erlebt. Dem eilte ein Ruf voraus, dass er vielleicht Schwierigkeiten macht, ein Star ist, unglaublich viel Geld bekommt etc. Der Film war ja nur finanzierbar, indem er diese Rolle spielt. Wir hatten aber von Anfang an ein sehr direktes, gutes Verhältnis, er spricht ja auch ganz gut Deutsch, weil er eine deutsche Mutter hat. Dann geschah etwas Unglaubliches. Er hat nämlich ein unfassbares Gefühl für die Kamera. Sie ist sein Publikum. Er weiß genau, wo sein Licht ist. Manchmal habe ich ihm ein Licht mit einem minimalen Spielraum gemacht. Aber er hat es immer geschafft, im richtigen Moment reinzukommen. An dem Punkt, wo es für die Szene gut war. Das ist einfach faszinierend. Zu sehen, wie jemand so mit der Kamera spielt. Er ist ein Movie-Star.

Inzwischen gibt es mehr und mehr Filme, die großteils auf digitalen Effekten beruhen. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass sich da eine Art Entmündigung der Kameramänner vollzieht?

Ich habe einen solchen Film gemacht: „Wild Wild West“ von Barry Sonnenfeld. Das war eigentlich die am wenigsten lustvolle Erfahrung, die ich bisher in diesem Job gemacht habe. Weil es am Ende nicht mehr mein Film war. Die Bilder wurden von einem Computer gemacht. Das ist nicht die Art, wie ich meinen Beruf sehe. Ich möchte schon sehr maßgeblich an jedem Bild beteiligt sein. Mich interessieren die Komposition und das Licht. (lacht) Ich will einfach lieber Filme machen, wo ich der Herr der Bilder bin.