Im Kreml regiert die Gelassenheit

Die einseitige Aufkündigung des ABM-Vertrages durch Washington nehmen die Verantwortlichen in Moskau unaufgeregt zur Kenntnis. Anzeichen dafür, dass die neue Antiterrorpartnerschaft durch den US-Vorstoss Schaden nehmen könnte, gibt es nicht

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Gelassen begegnete Russland dem gestern vollzogenen Schritt Washingtons, sich aus dem ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen zurückzuziehen. Unter Berufung auf Mitarbeiter im russischen Außenministerium meldete Interfax, Moskau sei von der Kündigungsabsicht unterrichtet gewesen. Die Regierung „dramatisiere die Lage nicht“ und werde die Entwicklung aufmerksam verfolgen.

Der Vertrag von 1972 diente dazu, mittels eines strategischen Gleichgewichts die gegenseitige Vergeltungsfähigkeit zu sichern. Ausdrücklich untersagte er beiden Supermächten, auf eigene Faust nationale Raketenabwehrsysteme zu entwickeln, wie sie Washington mit dem Aufbau des Raketenschilds NMD plant.

Weder Kremlchef Wladimir Putin noch die Präsidialkanzlei nahmen nach Bekanntwerden des US-Ausstiegs aus dem bilateralen Vertragswerk dazu Stellung. In der vergangenen Woche hatte Präsident Putin bereits angedeutet, Moskau begrüße die US-Entscheidung nicht, fühle sich aber in seiner nationalen Verteidigungssicherheit nicht bedroht. Betont gelassen fügte dem gestern Generalstabschef Anatoli Kwaschnin hinzu, vom militärischen Standpunkt stelle die Entscheidung Russland vor keine unlösbaren Probleme.

Ähnlich äußerte sich Dmitri Rogosin, Chef des außenpolitischen Ausschusses der Duma und Parlamentarier der kremlnahen Partei „Edinstwo“. Russland werde nun dazu übergehen, schwere Interkontinentalraketen mit multiplen Sprengköpfen zu entwickeln. Auflagen des Start-II-Abrüstungsabkommens seien damit hinfällig geworden.

Der liberale Vizechef der Duma, Wladimir Lukin, sieht die Dinge pragmatisch: Weder Vertrag noch Unterschriften seien von Bedeutung. Allein die annähernde Parität der Waffensysteme sei wichtig. Das Gleichgewicht bleibe erhalten, wenn beide Seiten ihr Arsenal auf 1.500 bis 2.000 Sprengköpfe abrüsteten. Im November hatten Putin und US-Präsident Bush bei einem Gipfel in den USA eine Abrüstungsinitiative angekündigt.

Der US-Rückzug signalisiert daher nicht, dass die Flitterwochen der neuen russisch-amerikanischen Partner nach dem 11. September abrupt zu Ende gehen. Zwar hatte Washington darauf gebaut, beide Seiten würden sich im Vorfeld zu einer Vereinbarung durchringen. Auch wenn diese nicht zustande kam, dürfte das die Beziehungen kaum beeinträchtigen. Moskau sieht ein, dass die Kräfte für einen Konfrontationskurs nicht reichen. Überdies scheint noch eine Einsicht zu reifen: auch wenn Russlands strategische Partner China und Indien russische Vorstellungen von einer multipolaren Weltordnung teilen, weisen sie Moskau nicht automatisch eine Führungsrolle zu. Beide fordern von Moskau die Weitergabe hochsensibler Militärtechnologien, die sicher nicht den herrschaftsfreien Diskurs vorantreiben sollen. Insofern hat das russische Festhalten am ABM-Vertrag eher propagandistischen Charakter, der Putin den Umgang mit seinen Militärs erleichtert.

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