Sängerin mit U-Bahn-Power

Zehn Jahre ist es her, da gab Yma Sumac in Berlin ein grandioses Konzert. Erstmals stellt nun ein Buch Leben und Werk der peruanischen Gesangslegende vor. Und weckt die Erinnerungen der Fans

von REINHARD KRAUSE

Ich hätte Helene damals das Band abschwatzen sollen – auch wenn es unglaublich mies aufgenommen war, eine Katastrophe. Völlig übersteuert. Was will man von einem billigen Walkman erwarten, der hoch oben im zweiten Rang, kurz unter dem Dach des Theaters des Westens, ein Konzert mitschneiden soll? Meine damalige Mitbewohnerin hatte es trotzdem versucht.

In der Pause spulte sie neugierig das Band zurück. Die Instrumentalparts gingen ja vielleicht noch an, immerhin ließen sich in all dem Gedröhne noch einzelne Instrumente erahnen, aber wenn Yma Sumac mit ihrem explosiven Gemisch aus sehr hohen und ultratiefen Tönen einsetzte, wurde es infernalisch! Ein Sound wie von einer anfahrenden U-Bahn, direkt am Getriebe aufgenommen – am Getriebe einer Lok aus einer sehr, sehr alten Baureihe wohlgemerkt. Das heulte, das jaulte, das donnerte! Unglaublich. Das sollte die berühmte peruanische Nachtigall sein, neben der Callas die legendärste Sängerin der Fünfzigerjahre? Helene war mit ihrem Raubmitschnitt höchst unzufrieden, für den Rest des Konzerts blieb der Walkman aus.

Was aus einem Abstand von fast genau zehn Jahren betrachtet durchaus schade ist. Denn es war ein denkwürdiges Konzert damals, am 28. Oktober 1991, ein richtiger Skandal. Die Jüngsten, die dabei waren, werden sich noch in fünfzig Jahren daran erinnern, wie die 69-jährige Sumac, aus ihren Augen Giftpfeile auf den Pianisten Kai Rautenberg und seine Combo abschießend, nach jedem Stück erbost von der Bühne eilte, nur äußerst widerstrebend zurückkehrte und, noch bevor der Programmzettel abgesungen war, alles endgültig hinschmiss.

Nach ein paar Schrecksekunden gingen die Saallichter an, das Konzert war aus. Ein Teil des Publikums schrie aus Leibeskräften „Buh!“, der andere nicht minder energisch „Bravo!“ und „Yma! Yma! Yma!“. Es war eine Tragödie, es war großartig! Es war der Auftakt zu einem annus horribilis für die peruanische Gesangslegende. Und für ihre Fans.

Yma Sumac darf man guten Gewissens zu den größten Stimmen des zwanzigsten Jahrhunderts zählen. Nicht allein wegen ihres phänomenalen Stimmumfangs von viereinhalb Oktaven und ihrer Fähigkeit, diese sämtlichen Oktaven in Dreiminutensongs avantgardistisch zum Einsatz zu bringen. Sondern auch weil sie in den Fünfzigerjahren – weit vor der Erfindung der Popkultur – in einer Weise mit Sounds und Images experimentierte wie später erst wieder Madonna oder Björk.

Yma Sumac war Hohepriesterin und Großstadtpflanze, Musikethnologin und Partyqueen, ihre Musik eine perfekte Synthese aus eigentlich Unvereinbarem: Kreatürlichkeit und Hochzivilisation, A- und B-Kultur, E- und U-Musik, Folklore und Comic. Eins allerdings waren ihre Platten nie: Weltmusik. Die stimmliche Virtuosität kam bei ihr stets vor folkloristischer Authentizität.

Umso erstaunlicher allerdings, dass die Sängerin selbst nach einem halben Jahrhundert im Musikbusiness noch mit einer vitalen Störrischkeit von der Bühne rauschen konnte, als habe sie von den Gepflogenheiten ihres Metiers noch nie auch nur gehört. Zwei Stunden nach dem Debakel im Theater des Westens erschien sie – nun doch etwas zerknirscht und ausgeschimpft wirkend – an der Seite von Eartha Kitt auf der After-Show-Party in einer Berliner Kellerbar. „Bad Eartha“ hätte es wohl keinem der anwesenden Journalisten ins Mikro gesprochen, doch es hieß, sie habe Yma Sumacs heißspornigen Bühnenabgang „höchst unprofessionell“ gefunden.

Als ich zwei Tage später Yma Sumac für ein Spex-Interview in ihrem Berliner Hotelzimmer traf, empfing mich eine warmherzige und höchst kooperative ältere Dame, die von sich selbst gerne als „Miss Sumac“ sprach – oder auch „Missumi“. Keine Spur von der aufbrausenden Bühnendiva.

Die Wurzeln der peruanischen Nachtigall liegen in mythologischem Dunkel. Allein die Geburtsdaten schwanken zwischen dem 12. September 1922 und dem 10. September 1927. Doch das ist eine Petitesse neben den diversen Legenden, mit denen Sumacs künstlerische Fama garniert wurde. Sie sei eine Nachfahrin des Inkakaisers Atahualpa, sie sei schon als Kind als Xtabay, als auserwählte Sonnenjungfrau, verehrt worden, sie habe mit zwölf den Komponisten Moises Vivanco geheiratet und sei von ihm entführt worden – woraufhin erboste Inkas einen Regierungspalast gestürmt hätten. Eine nicht minder interessante unhaltbare Gegenlegende ging so: Sie sei eine „Betrügerin“ aus Brooklyn, die ihren wirklichen Namen Amy Camus nur umgedreht habe. Oder sie sei das Soundkonstrukt aus drei oder gar vier Sängerinnen mit unterschiedlicher Stimmlage.

Tatsächlich nachprüfbar wird die Lebensgeschichte der Yma Sumac erst mit Beginn ihrer Gesangskarriere an der Seite von Moises Vivanco zu Beginn der Vierzigerjahre. Nach ersten Erfolgen in ihrem Heimatland Peru hatte das Paar geheiratet, weil anders von Sumacs Eltern nicht die Zustimmung zur Ausreise zu erhalten war. Weitere Stationen wurden Buenos Aires, Rio de Janeiro und Mexiko City. Als „Inka Taqui Trio“ boten Sumac, Vivanco und Sumacs Cousine, Cholita Rivero, Folklore auf hohem Niveau. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schließlich lockten die USA und der Weltmarkt. Allerdings sollte es einige Jahre dauern, bis sich auch dort der Erfolg einstellte und der erste Sumac-Longplayer „Voice of the Xtabay“ (1950) zu einer Sensation geriet.

Nicht nur in den USA waren die Fünfzigerjahre eine Zeit der Exotiksehnsucht. Es war letzter Schrei, seine Longdrinks in Kon-Tiki-Bars mit pseudorituellem, pseudogruseligem Ethnoschmuck zu sich zu nehmen; in Hollywood entstanden heitere bis unfreiwillig heitere Spielfilme wie „Die Schlangenpriesterin“ („Cobra Woman“: Maria Montez in einer Doppelrolle als bösartige Hohepriesterin eines matriarchalen Schlangenkultes und als ihre grundgute Zwillingsschwester) oder „Meine Braut ist übersinnlich“ („Bell, Book and Candle“: Kim Novak als praktizierende Großstadthexe betreibt einen schicken Ladens für Präcolumbiana und becirct James Stewart mit Zaubersprüchen und einem guten Herzen). Gut im Geschäft war auch die brasilianische Komikerin und charmante Krawallsängerin Carmen Miranda, die bereits seit den Dreißigerjahren im Hollywoodeinsatz war, wenn es darum ging, einem langatmigen Film durch rasante Songs, groteske Tanzeinlagen und Tuttifruttihüte Pepp zu verpassen.

Die Zeichen hätten also schlechter stehen können für eine lateinamerikanisch gefärbte Bühnenshow mit einer stimmgewaltigen Sängerin. Zunächst jedoch musste Yma Sumac zu einem Produkt gemacht werden, zu einem Markenartikel für die Bedürfnisse des nordamerikanischen Markts. Der Mann, der diese Aufgabe übernahm, war kein Geringerer als Orchesterchef Les Baxter, Fachmann für Fifties-Exotica. Die ursprünglichen folkloristischen Anklänge ergänzte er um Hollywoodbombast, der auf den nachfolgenden Alben „Legend of the Sun Virgin“ (1952) und „Inca Taqui“ (1953) wieder etwas abgemildert wurde.

Das amerikanische Publikum liebte jedoch vor allem die Breitwandfolklore des Debütalbums. Auch wenn Yma Sumac bis heute beteuert, das Publikum werde sich von ihr, bis sie neunzig ist, immer die ganz hohen Töne wünschen („the voice of the birds“), dürften vor allem ihre unvermittelten tiefen Belllaute („the voice of the earthquake“) zu ihrer Popularität beigetragen haben.

Allmählich wurden auch die Filmbosse auf die peruanische Gesangslegende aufmerksam. 1954 hatte man schließlich ein Treatment gefunden, das als Vehikel für den Andenstar dienen sollte. Der Paramountstreifen „Secret of the Inca“ zeigte jedoch deutlich, wie wenig man das Potenzial der Sängerin zu nutzen verstand.

Neben Charlton Heston, der einen skrupellosen und weitgehend sympathiefreien Abenteurer spielt, verkommt Yma Sumacs Part zu besserer Statisterie. Wenn sie nicht gerade eines ihrer willkürlich in die Handlung eingestreuten Lieder singt, steht sie missvergnügt wie eine Gewitterwand auf dem Set herum. Als ahnte sie in jeder Minute, dass der im Film gezeigte Raub einer goldenen Schale in der bloßen Aneignung ihres Namens seine Fortsetzung fand.

Die Rolle der Sonnenjungfrau jedenfalls war mit dieser Verfilmung ausgereizt. Auf dem nächsten Album verlegte sich das Ehepaar Vivanco-Sumac ganz auf den aktuellen Boom lateinamerikanischer Tänze. Robert Mitchum veröffentlichte ein Album mit dem programmatischen Titel „Calypso“, Della Reese konterte später mit „Della Della Cha Cha Cha“, und Yma Sumac machte „Mambo“ (1955), ein Album mit Großstadtmusik reinsten Wassers. Klirrende Bläsersätze und rasante Rhythmen vertrieben noch den letzten folkloristischen Anklang. Ihr trockener Kommentar 1991: „This was Hollywood Mambo! But the little boys liked it a lot.“ Und der Kaufkraft der nachgewachsenen „little boys“ maß sie auch als fast Siebzigjährige noch entscheidende Bedeutung bei: „Auf die kleinen Jungs kommt es letztlich an, denn die sind es, die ihr Geld für Platten ausgeben. Denen ist es völlig egal, ob ich nun berühmt bin oder nicht. Wenn es denen nicht gefällt, dann gefällt‘s ihnen nicht – aus! Schließlich kann man nicht alles mögen. Aber es gefällt ihnen.“ sIn den USA wurde „Mambo“ das erfolgreichste Sumac-Album. Für „Legend of the Jivaro“, 1957 entstanden, bediente man sich allerdings noch einmal sehr entschieden im Mythenhaushalt des „wilden“ Südamerika. Yma Sumac und Moises Vivanco, so zumindest erläutert es der Covertext, hätten sich für dieses Album an den Amazonas begeben, um den Gesängen der letzten dort noch lebenden Kopfjäger zu lauschen. Die Kompositionen, verriet Sumac im Interview gar nicht geheimniskrämerisch, waren freie Improvisationen zu den verschiedensten Tierlauten, Urwaldgeräuschen und Eingeborenengesängen. Das Album geriet allerdings – der trashigen Coverart mit einer erschrocken hinter einem irdenen Eingeborenenkochtopf kauernden Yma Sumac zum Trotz – so verstörend und düster, dass es floppte.

Die letzte Sumac-LP in den Fünfzigerjahren war „Fuego del Ande“ aus dem Jahr 1959, eine Sammlung lateinamerikanischer Popmusik und nach „Mambo“ das unbeschwerteste Album der singenden Inkaprinzessin. Danach folgten ein paar Jahre, in denen Sumac und Vivanco, mittlerweile geschieden und wieder neu verheiratet, durch den Ostblock tourten, um ihre Steuerschulden zu begleichen.

Mitte der Sechzigerjahre erfolgte die endgültige Trennung von Vivanco – und gleichzeitig das Ende von Sumacs Plattenkarriere. Nur 1971 ließ sie sich von glühenden Verehrern überreden, ein Album mit zeitgenössischer Rockmusik aufzunehmen, „Miracles“. Produzent war Les Baxter, der 21 Jahre zuvor „Xtabay“ betreut hatte. Bei der Erinnerung an diese Platte konnte sich die Sumac noch nach zwanzig Jahren schütteln: „Wollen Sie die Wahrheit wissen? Ich mag dieses Album nicht. Jeder Titel klang genau gleich. Und wenn ich heute noch einmal ein Rockalbum aufnehmen würde, oh my God, die Kritiker würden mich töten!“

Als Sumac-Album mag „Miracles“ die Fans enttäuschen, in die Reihe ihrer sehr unterschiedlichen, fast immer sehr experimentellen Alben bringt es gleichwohl einen wiederum sehr eigenständigen, psychedelisch grundierten Gestus. Die Sumac tritt hier nicht, wie zu erwarten, als extatisch röhrende Rocksängerin auf, was auch gar nicht zu der soignierten Dame gepasst hätte, ihre Stimme steht hier nur mehr gleichberechtigt neben dem gängigen Rockinstrumentarium aus E-Gitarre, Synthesizer und Schlagzeug. Rock als Designerware. Man könnte auch von Lounge-Rock sprechen. Fahrstuhlmusik auf LSD. Vielleicht ist erst jetzt, dreißig Jahre später, die Zeit reif für diese merkwürdige, kühle Platte.

Nach dem gescheiterten Comeback zog sich Yma Sumac für fünfzehn Jahre völlig zurück und trat erst Mitte der Achtzigerjahre wieder auf. Zwar war immer wieder von Plänen zu einem neuem Album die Rede, bis heute ist allerdings nur eine einzige neue Single erschienen, „Mambo Con Fusion“, 1991 mit deutschen Studiomusikern aufgenommen. Diesmal im Clubsound.

Yma Sumacs Deutschlandaufenthalt sollte sich damals übrigens noch in die Länge ziehen – und von weiteren Eklats überschattet werden. Wenige Tage nach dem abrupt beendeten Konzert kündigte das Theater des Westens den Mietvertrag für das geplante Nachfolgekonzert – mit der nicht sehr stichhaltigen Begründung, die Sängerin sei offensichtlich gesundheitlich nicht in der Lage, ein komplettes Konzert durchzustehen. Auch die Arbeiten an einem neuen Album kamen zum Erliegen, als einzige Einnahmequelle blieben für Yma Sumac gelegentliche Auftritte in Fernsehtalkshows – zu wenig, hieß es hinter vorgehaltener Hand, für einen Rückflug in die USA. Es machte gar das Gerücht die Runde, Yma Sumac werde von einer Berliner Mitwohnzentrale an interessierte WGs vermittelt.

Doch dann schien sich noch alles zu fügen: Im Mai 1992, ließ das Management verlauten, absolviere Yma Sumac mit einer neuen Begleitband drei Auftritte in Deutschland. Vorher trat sie noch in der legendären „Schmidt-Show“ auf der Reeperbahn auf. Neuer Eklat. Als Zugabe hatte sie gerade die ersten Töne eines Wiegenliedes aus den Anden gesummt, da brach sie auch schon wieder ab, zeigte mit dem Finger ins Publikum und schimpfte: „The lady is laughing upon me. If you laugh, I won’t sing!“ Sprach’s, warf ihr wallendes Bühnenkostüm nach hinten und verschwand ungegrüßt und ungeküsst in den Kulissen. Vielleicht war es keine so glückliche Idee, die Sumac in einer Sendung auftreten zu lassen, in der singende und tanzende RentnerInnen sich zur allgemeinen Gaudi produzierten.

Am 25. Mai 1992 gab sie im Hamburger St. Pauli Theater ihr Abschiedskonzert. Gleich am nächsten Morgen, hieß es, gehe ihr Flieger nach L.A. Diesmal saß ich in der dritten Reihe und sandte meine ganzen telepathischen Fähigkeiten Richtung Bühne. Wenigstens diesmal sollte doch bitte alles glatt gehen. Die Band spielte, die Sumac knurrte und bellte und sang – nicht ohne Mühe, aber sie sang. Bis zum Schluss. Bis zum Vorhang. Nie war ein Konzertbesuch für mich anstrengender. Ich würde es jederzeit wieder tun.

REINHARD KRAUSE, 40, ist taz.mag-Redakteur