Ein letzter Gruß. Vorbei.

Der Jüdische Kulturbund gab zwischen 1933 und 1941 jüdischen Künstlern die Chance zum Überleben. Eine brillante Dokumentation lässt ihr Erbe wieder aufscheinen

von PHILIPP GESSLER

„Vorbei, vorbei, vorbei – ein letztes Wort, ein letzter Gruß zum Abschied“ (Dora Gerson, 1935)

Der kleine Andreas verstand nicht. Seine Mutter Lilly, Frau des Oberkantors der Berliner jüdischen Gemeinde, Estrongo Nachama, wandte sich in der Pause eines Konzerts des Geigers Nathan Milstein Ende der Sechzigerjahre in der Philharmonie, an eine Freundin. Wie sie hatte Lilly Nachama die Nazizeit versteckt überlebt. Die blonde Lilly begann umgehend vom Konzert zu schwärmen: Es sei „so irre schön“, ganz „wie bei einem Kulturbundkonzert“. Dieses „irre schön“ hörte Andreas Nachama, der spätere Vorsteher der Gemeinde, später öfter von seiner Mutter und Bekannten, wenn vom „Jüdischen Kulturbund“ die Rede war. Aber was war so „irre schön“ gewesen – und warum?

„Dort in Hawaii, hab’ ich das Glück gefunden“ (Willy Rosen, 1935)

Diese Fragen kann nun ein überaus ausführliches und reich bebildertes Buch nebst einer umfangreichen CD-Sammlung beantworten. „Vorbei – Beyond Recall“ heißt die verdienstvolle Fleißarbeit, die ein Welterbe sichert: Ton- und Bilddokumente des jüdischen Kulturlebens in Berlin in brauner Zeit.

Zwischen 1933 und 1941 organisierte der „Jüdische Kulturbund“ in Deutschland die Auftritte der Musiker, Sänger und Schauspieler jüdischer Herkunft. Auf den „irre schönen“ Kulturbundabenden erlebte ein drangsaliertes jüdisches Publikum seine Stars: Der Name „Kulturbundkünstler“ bürgerte sich ein, einem Ehrentitel gleich – „einer oder eine, auf den oder die man sich verlassen kann“, so erinnert sich Andreas Nachama heute.

„Iberal hot men uns gemacht zu schand zu schpot“ (Mordechai Roth, 1934)

Nach Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 gingen kleine und große Nazis schnell daran, Veranstaltungen jüdischer Künstler zu verhindern oder zu stören. Diese Störungen lieferten nazitreuen Beamten den Vorwand, die Auftritte zu verbieten. Als etwa der Wilhelm-Furtwängler-Nachfolger, Gewandhauskapellmeister Bruno Walter, ein Konzert der Berliner Philharmoniker dirigieren sollte, versagten die Behörden dem Konzert Polizeischutz. Stattdessen empfahl das Ministerium Joseph Goebbels’, doch lieber einen „arischen“ Dirigenten zu engagieren.

Viele jüdische Künstler emigrierten – etwa der „Dreigroschenoper“-Komponist Kurt Weill. In Folge des Reichskulturkammergesetzes vom 22. September 1933 wurden Juden sukzessive vom Kulturleben ausgeschlossen. „Keine Bühne wollte das Risiko eines Engagements von mir eingehen“, beschrieb der Komponist Hans Schindler die Not vieler, „bestehende Schallplattenverträge wurden gekündigt, Kompositionen, Bearbeitungen und mit meinem Namen als Dirigent versehene Schallplatten wurden im Rundfunk boykottiert“. Tausende jüdische Künstler standen auf der Straße.

„Od lo jirschak zeh hajom, bo tagil – Nicht fern ist der Tag, da du jubelst“ (Ferris Gondosch, 1935)

Schon zuvor hatte der stellvertretende Intendant der Städtischen Oper in Berlin-Charlottenburg, Kurt Singer, mit Gleichgesinnten die Initiative ergriffen. Nach einigen Auseinandersetzungen mit zunächst den preußischen, dann reichsweiten Behörden erhielt er am 15. Juli 1933 die Genehmigung, den „Jüdischen Kulturbund Berlin e. V.“ zu gründen – mit Auflagen: So durften etwa nur Juden darin Mitglieder sein. Die Behörden mussten die Veranstaltungen genehmigen, obendrein hielt sich die Gestapo stets im Publikum auf.

Rund zweitausend Bewerbungen gingen beim Bund ein. Etwa zweihundert Personen wurden eingestellt, vom Orchestermusiker bis zur Garderobenfrau. Bald besaß der Kulturbund ein eigenes Theater. Finanziert wurde dies alles durch die Beiträge der etwa 12.500 Mitglieder des Bundes (ungefähr zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung Berlins). Bis Ende 1935 bildeten sich in 61 deutschen Städten Kulturbünde.

„Kaddisch? Für wen? Großer Gott!“ (Marion Koegel, 1935)

Zunächst auf eigenes Bestreben, von 1935 an auf gesetzlichen Druck hin, schlossen sich die regionalen Kulturbünde zum „Reichsverband“ zusammen. Doch was von den Organisatoren als Chance zur Bündelung der Kräfte verstanden wurde, verkam schnell zur Zwangsorganisation. Denn nur die jüdischen Künstler, die Mitglied eines Bundes waren, durften überhaupt noch auftreten. Die Gründung, so hielt Reinhard Heydrich, Chef der Politischen Polizei intern fest, erfolgte „zur leichteren Erfassung und zentralen Überwachung“ aller jüdischen Vereinigungen.

Viel Symbolträchtiges wurde zunächst gegeben, etwa Lessings „Nathan der Weise“. „Typisch Jüdisches“ war wenig im Programm, was manchen innerhalb des Kulturbundes als auch den Nazibehörden missfiel. Schließlich schlugen die NS-Zensoren zu: Da sie glaubten, die angeblich deutsche Kultur werde entstellt, wenn jüdische Künstler sie interpretierten, verboten sie 1935 dem Kulturbund die Aufführung aller Werke, die die Nazis als „besonders deutsch“ ansahen. Zuerst wurden Schillers Stücke für tabu erklärt, von 1936 an alle so genannten Klassiker, nach dem Anschluss Österreichs 1938 auch die Musik Mozarts. Schließlich waren nur noch jüdische Autoren und Komponisten erlaubt, die ihren Wohnsitz in Deutschland hatten. Die Nazis wollten verhindern, dass Tantiemenzahlungen ins Ausland fließen.

Die Zensoren gingen so weit, Worte wie „blond“ aus erlaubten Stücken zu streichen. Der Grund: Diese Worte aus jüdischem Mund könnte man als Karikatur der NS-Ideologie verstehen. Zudem gab es unter den jüdischen Intellektuellen eine rege Diskussion, ob die Kulturbünde nicht der Weg zurück ins Ghetto seien. Kurt Tucholsky schrieb im schwedischen Exil 1935 prophetisch: „Sie spielen in streng geschlossenen Theatern, isoliert wie Leprakranke, und ich höre bis hierher: ‚Jetzt werden wir ihnen mal zeigen, dass wir das bessere Theater haben!‘ Sie hören nichts. Sie sehen nichts. Sie merken nichts.“

„Sei stille dem Herrn und warte auf ihn.“ (Paula Lindberg, 1935)

Das Repertoire des Kulturbundes musste gekürzt werden, die Mitgliederzahl sank. Nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurden zunächst alle Aufführungen verboten – jedoch, um die Illusion einer Normalität zu erzeugen, bald wieder erlaubt. Dafür wurden ins KZ verschleppte Mitarbeiter freigelassen.

Einerseits dienten die Kulturbundabende dazu, die jüdische Bevölkerung in falscher Sicherheit zu wiegen, andererseits empfanden viele Juden die Auftritte ihrer Künstler als Ermutigung: „Das Halbrund des Parketts und Ranges strahlte im alten Glanz“, schildert der Kulturbunddramaturg Herbert Freeden diese Ambivalenz: „Zu Hause warteten Frauen auf Nachricht von ihren verschleppten Männern und Söhnen; zu Hause saßen Menschen auf den Trümmern ihrer Existenz – und hier im jüdischen Theater gingen auf Befehl die Lichter wieder an.“

Am 11. September 1941 aber, kurz vor Beginn der Deportationen, war endgültig Schluss: Der Kulturbund wurde verboten, das Eigentum konfisziert, die Mitarbeiter verhaftet. Sein Gründer Kurt Singer wollte noch im Konzentrationslager Theresienstadt kurz vor seinem Tod Händel-Oratorien aufführen: „Wenn nicht in Theresienstadt, wo sonst?“

Mehr als die auf den elf CDs vorliegenden Aufnahmen sind von den Kulturbundkünstlern nicht erhalten. Für die Sammlung wurden zerbrochene Schellackplatten geklebt, störende Nebengeräusche weggefiltert – so gut es eben ging: Viele der alten Aufnahmen rauschen und jaulen sehr, selbst auf CD. Und doch liegt auf ihnen ein Zauber, wenn Dora Gerson singt:

„Vorbei, vorbei, vorbei – ein letztes Wort, ein letzter Gruß – vorbei“

Philipp Gessler, 34, ist Redakteur im Berlinressort der taz