Alles fließt

Karl Faller und wie er die Welt, die Vergangenheit und seine Eltern sieht: Mit „Parlando“ hat Bodo Kirchhoff eine grandiose Vater-Sohn-Geschichte vorgelegt. Hin und her wird um ein Leben erzählt

von DETLEF GRUMBACH

Karl Faller ist ein Alleinreisender. Von Frankfurt aus führen ihn seine Wege nach Lissabon und Rom, nach Mexiko-Stadt und Buenos Aires, nach Marrakesch. Im Gepäck hat er die Reiseführer seines Vaters Kristian, „Fallers Stadtführer für Alleinreisende“, die Erkundungen dieses Vaters, der den Sohn als 17-jähriger Schüler in einem Kloster in Rom gezeugt hat. Als Student hat er sich vom Aufbruch der Apo mitreißen lassen, hat Marx und Freud gelesen. Für eine Ärztin von der Roten Hilfe ließ er seine Frau und das Kind im Stich, reihte dann Affäre an Affäre und stand schließlich allein da: Für ein paar Abenteuer hatte er Verrat an der Familie geübt und war selbst schließlich verraten worden: von den einstigen Mitstreitern, vom besten Freund, der heute Minister ist.

Karl Faller kann sich nicht von diesem Vater lösen, der zwar die Welt erklären konnte („nur der Kapitalismus sei Schuld an unserem Desaster“), als Mensch jedoch versagte. Er kann ihn nicht hassen, folgt also seinen Spuren: durch die Städte, die er erkundet hat, und durch die Betten seiner Geliebten, die der Sohn ebenfalls „erobert“. Ins Zentrum dieser Suche nach dem verlorenen Vater rückt eine rätselhafte „Stillsteherin“, von der in jedem der Stadtführer erzählt wird: „Ganz auf sich gestellt, zieht sie Tag für Tag in eine Schlacht, die Schlacht um die berüchtigte Selbstachtung: gegen jeden, der ausharrt, einen Moment der Schwäche bei ihr zu erleben, oder gar alles versucht, diese Schwäche herbeizuführen.“ War die Stillsteherin womöglich die einzige Frau, die der Vater wirklich geliebt hat? Ist sie eine Erfindung des Vaters? Oder klagt sie gleichsam als „Schutzpatronin weiblicher Schmerzen“ die persönlichen Verfehlungen Kristan Fallers an? Karl muss die Stillsteherin finden, wenn er dem Vater und seiner verlorenen Kindheit auf die Spur kommen, Geborgenheit und Liebe, Ruhe und Trost finden will.

„Parlando“ nennt Bodo Kirchhoff seine fesselnde Vater-Sohn-Geschichte, seinen neuen, nach „Infanta“ (1990) zweiten dickleibigen Roman, in dem das Reisen, das rastlose Suchen und das Fabulieren eine fantastische Symbiose eingehen und Karl Faller am Ende dieses sprachgewaltigen Wörterflusses in gewisser Weise zu seinem Ziel führen. Hat Kirchhoff, Jahrgang 1948, bisher meist Vertreter der eigenen Generation und ihre oft als machohaft verschriene Suche nach Liebe und Sex, nach flüchtiger Körperlichkeit ins Blickfeld gerückt, so wechselt er jetzt die Perspektive. Der Blick auf Kristian Faller, der etwa so alt ist wie der Autor und durch eingeflochtene Hinweise in dessen Biografie und Werk eingebunden wird, wird gefiltert durch den Blickwinkel des Sohnes, durch dessen Ambivalenz zwischen „Nachahmung“ und Distanz. Ohne dass eine vordergründige Abrechnung mit der Libertinage der Achtundsechziger oder eine Houellebecq’sche Effekthascherei daraus wird, rückt der Sohn ins Zentrum des Erzählens.

Karl Faller, der wie auch Kirchhoff Drehbücher für Fernsehkrimis schreibt, wacht zu Beginn des Romans in einem Frankfurter Krankenhausbett auf. Eine Staatsanwältin klärt ihn darüber auf, dass er niedergeschlagen hinter der Alten Oper neben einer Frauenleiche aufgefunden worden ist. Sie vernimmt ihn als Zeugen, doch er gesteht sofort den Mord: Er habe die Frau gekannt, sie sei auf dem Opernplatz als Stillsteherin aufgetreten. „Und von wem wurden sie bewusstlos geschlagen?“, fragt die Staatsanwältin. Kristian Faller beginnt zu erzählen. Zu seinem Geständnis gehört seine ganze Lebensgeschichte: die Grunderfahrung der Einsamkeit, seine Kindheit im Heim, der Mord an einem Kaplan, den er dort begangen haben will, und schließlich der Tod seiner Eltern, für den er sich ebenfalls verantwortlich fühlt. Alles soll plausibel klingen und die Staatsanwältin an dem Fall, also an ihm, festhalten, aber was ist hier wahr und was ist erfunden?

Faller erzählt buchstäblich um sein Leben. „Ich bin“, heißt es an einer Stelle, „was ich erzähle, und bin es nicht.“ Er entwirft detailgenaue Szenen, springt in assoziativer Form hin und her in Raum und Zeit. So, wie er es gerade braucht, zieht er Quellen wie die Berichte der Geliebten, die Reiseführer und das geerbte Laptop seines Vaters hinzu, wobei auch dieser um einige Facetten reicher geschildert wird. Die Differenz zwischen Gelebtem und Erzähltem, das Spiel mit Wahrheit und Lüge, der ständige Balanceakt am Rande der Kolportage und das Durcheinander der verschiedenen Stimmen machen die Lektüre zu einem vergnüglichen, kriminalistischen Puzzlespiel und verdrehen den Lesern den Kopf. Und so geht es auch der Staatsanwältin, die Faller in seiner Sehnsucht nach Trost, Liebe und Geborgenheit und durch seine Sprachorgie längst verführt hat. So folgt sie ihm nach Abschluss des Falls, wenn Faller die Stillsteherin in Lissabon, Buenos Aires, und Mexiko-Stadt sucht. Doch je näher er der Stillsteherin kommt, desto unfassbarer wird sie, desto unfassbarer wird auch der Vater und all das, was er einmal bedeutet hat. Am Ende dieses grandiosen Romans ist aber wenigstens alles erzählt, kann der Sohn endlich zu sich kommen. Und die Staatsanwältin ist immer noch bei ihm.

Bodo Kirchhoff: „Parlando“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2001, 535 Seiten, 25,46 € (49,80 DM)