Miss Schweiz ans Kreuz

Mit dem Musicalprojekt „Der digitale Wikinger“ brachten Schorsch Kamerun und die Goldenen Zitronen das Zürcher Theaterpublikum zum Kichern – auch über die heimischen Katastrophen

von EVA BEHRENDT

Wer schweizwärts noch nach Niedergangssymptomen sucht, blickt aufs Zürcher Schauspielhaus. Gerade noch zum „Theater des Jahres“ im deutschen Sprachraum gekürt, verzeichnet es ungebrochenen Zuschauerrückgang, schreibt immer rötere Zahlen und wird deshalb zum Spielball im kommenden Wahlkampf missbraucht: Prompt trumpft populistische Behauptungsfreude. Das Theater spiele an den Bedürfnissen seiner traditionellen und hauptsächlichen Kundschaft vorbei – und die hat selbstverständlich immer Recht. Denn seit Christoph Marthaler die Intendanz übernommen hat, haben sich einige räumliche und künstlerische Parameter leicht verschoben; Klassiker werden nicht mehr nur im alten „Pfauen“-Theater, sondern auch im teuer angeschafften, neuen Schiffbau gezeigt, der schick im Industriegebiet steht – und dann sind Klassiker bei Marthaler oder Pucher oder Castorf meist nicht mehr einfach Klassiker.

In dieser Debattenhitze schien sich die „Pfauen“-Premiere des Musicals „Der digitale Wikinger“ als schiere Risikofreude und Beschwerdenfutter anzukündigen. Zumal das Projekt von Schorsch Kamerun regiert und den postpunkoiden Goldenen Zitronen musikalisiert wird, zu Ruhm und regionalen Kultweihen gekommen über das campige Veranstaltungskonzept Pudelklub, darüber hinaus ein wichtiger Pfeiler der ehemals so genannten Hamburger Schule samt deren linksintellektueller Popdiskurs-Orientierung.

Was kann hanseatischer Radical Chic dem Zürcher Theaterpublikum bieten? Zunächst ein paar saftige Albernheiten, wenn sich zum dunklen Auftakt die Silhouetten der „Swiss Quality Dancers“ als Börsenkurse schlängeln, gefolgt von einem Pappflieger der Swissair, den ein UBS-Hochhaus umflirtet – bis aus dem vierten Stock zwei Schauspielerarme herausgreifen, das Flugzeug an sich reißen und „Fusion!“ übers Digitalband blinkt. Dann Bühnenbilder und Kostüme (Damian Hitz, Dorle Bahlburg) wie aus einem unter Geld und Drogen gesetzten Schülertheater.

Und schließlich eine Story, die die Verzahnung von Kunst und Wirtschaft persifliert und ihrer scheinbaren Komplexität entreißt: Seit Intendant Klingenburg den geschmeidig größenwahnsinnigen Eventmanager und Profikotzbrocken Dennis Kluft ans fiktive Schauspielhaus geholt hat, tobt das Publikum begeistert. Nur Starschauspieler Claus Bruno gerät von Produktion zu Produktion tiefer in die Sinnkrise, was die Musical-Sequenzen üppig belegen: Bruno, der Mann mit der Pavarotti-Figur, tritt als Vodafone-Handy auf, verurteilt als TV-Liebesrichter Beziehungsschlachten und überwacht in „De Sade als Tamagotschi“ aus überdimensioniertem Pappgehäuse, Kaugummi kauend und sonnenbebrillt, die Kreuzigung der Miss Schweiz durch vier Todesallegorien, auf deren Kutten in Stichworten die jüngsten Katastrophen verzeichnet sind. Davos neben Zug – da atmete das Publikum hörbar ein und ließ sich dann doch von der kichernden Hamburger Fankurve anstecken.

Die ganze Schrillness wedelt clever zwischen den Genres und ihren Parodien, weicht jeder kulturpessimistischen Schlinge geschickt aus, egal, ob die in den bedrohlich ruhigen Thrillerpassagen im Hause Bruno lauert, im gackernden Boulevard in der Künstlergarderobe oder beim Stand-up-Comedy der theaterpädagogisch angehauchten Zwischenmoderationen.Think global, act local: Schließlich quittiert „Der digitale Wikinger“ intellektuelle Rat- und Ausweglosigkeit mit einer Schule-Stunde in Sachen selbstreflexives Entertainment, die aus deutscher Sicht zugleich erstaunlich Schweiz-insiderisch verfährt.

Von Schweizer Verwaltungsräten bis Hamburger Helden wie Blumfeld war das Premierenpublikum durch die Bank jedenfalls ziemlich hin und weg.