Ein schwarzes Athen

Leopold Senghor, Kulturtheoretiker, Dichter und Expräsident des Senegal, ist tot. Seine Lehre von der „négritude“ ist die große Rivalin des Panafrikanismus

von DOMINIC JOHNSON

Wäre Leopold Sedar Senghor lediglich der erste Präsident des unabhängigen Senegal gewesen, hätte die Nachricht von seinem Tod am Donnerstag im Alter von 95 Jahren weniger Aufsehen erregt. Als einer der letzten Vertreter jener Generation afrikanischer Staatsmacher, die in den 60er Jahren von den weißen Herren die Macht entgegennahmen, war Senghor zwar eine wichtige, aber keine überragende Figur. Wie alle seine Zeitgenossen regierte er autoritär und hinterließ sein Land bei seinem Rücktritt 1980 ärmer und perspektivloser, als er es 1960 vorgefunden hatte. Aber Politik war nicht seine Leidenschaft. Senghor war in erster Linie Poet und Kulturtheoretiker, und das begründet seinen Ruhm.

Der unlöslich mit Senghors Namen verbundene Begriff négritude ist viel kritisiert worden, gerade auch von Afrikanern, die darin eine Unterwerfung Afrikas unter die kulturelle Hegemonie des Westens wittern. „Mehr Seele als Denken“ sei die négritude, schrieb Senghor einmal und bediente damit das Klischee vom körperbetonten, emotionalen Neger, der nur auf die Zivilisierung durch zerebrale, vernunftbegabte Kartesianer warte. Senghors ganze Art unterstrich natürlich diese Kritik: Seine perfekte Imitation französischen Lebensstils; seine überhebliche Meisterung und Verteidigung der französischen Sprache auch gegegenüber seinen Landsleuten; seine Mitinitiierung der Bewegung der Frankophonie, von Paris zuerst belächelt und später als machtpolitisches Instrument erkannt und missbraucht; sein selbstgewählter Rückzug in die Normandie, wo er bis zum Tod am Donnerstag mit seiner französischen Ehefrau lebte.

Solche Kritik aber verkennt den Impuls, der Senghor und den schwarzen karibischen Dichter Aimé Césaire antrieb, als sie den Begriff négritude 1932 in Paris in die Welt setzten. Ein Jahr zuvor hatte dort die Weltausstellung stattgefunden, glanzvollste Manifestation der imperialen Überheblichkeit Europas, in der Schwarze als anders und minderwertig galten. Der Hegemonie des weißen Rassismus etwas entgegenzusetzen konnte nicht in der Behauptung bestehen, die Schwarzen seien eigentlich genauso wie die Weißen und ihnen daher ebenbürtig. Es konnte nur bedeuten, ihnen die Ebenbürtigkeit auch im Falle einer möglichen Andersartigkeit zuzusprechen. Die négritude war keine unterwürfige Assimilationsbewegung, sondern eine affirmative Erweckungsbewegung. „Meine Négritude ist kein Schlaf der Rasse, sondern Sonne der Seele“, dichtete Senghor. „Meine Aufgabe ist, mein Volk zu künftigen Flammenbäumen zu erwecken.“

Es sind die historischen Dimensionen des Begriffs, die der négritude eine oft verkannte Sprengkraft geben. Als „Gesamtheit der Werte der schwarzen Zivilisation“, wie sie Senghor auch definiert hat, geht sie über Afrika hinaus und umfasst die ganze schwarze Diaspora bis nach Amerika. Die négritude soll von innen nach außen strahlen, während der Panafrikanismus, die große rivalisierende Ideologie der Entkolonisierung, aus der Diaspora nach Afrika hineingetragen wurde und schließlich einen hemmungslosen Nationalismus begründete. Während dessen Träger zwar die Einheit Afrikas predigten, aber seine Balkanisierung praktizierten, zielte Senghor als Politiker über die eigenen Landesgrenzen hinaus. Die Aufteilung Französisch-Westafrikas in seine heutigen nationalstaatlichen Bestandteile, durchgesetzt von seinem großen Rivalen Félix Houphouët-Boigny aus der Elfenbeinküste, lehnte Senghor ab; er sah Senegal als „schwarzes Athen“, das eine kontinentale Zivilisation begründen konnte. Trotz all seiner Feindseligkeit gegenüber Senegals Panafrikanisten, deren herausragendsten Vertreter Cheikh Anta Diop er verfolgte, einte ihn mit diesen die Überzeugung, dass das schwarze Afrika die Wiege der Weltzivilisation sei, angefangen mit den ägyptischen Pharaonen, deren Sprache dem senegalesischen Wolof so ähnlich ist.

Aus der inneren Sicherheit der schwarzen Überlegenheit heraus ist die négritude also mehr als ein bloßer Anspruch auf Ebenbürtigkeit – sie verweist den Rest der Welt auf ihren Platz. In seiner listigen Antrittsrede bei der Aufnahme in die Académie Française, Tempel der französischen Hochkultur, wischte Senghor 1984 jegliche Universalitätsansprüche Frankreichs beiseite, aber so dezent, dass es nicht auffiel. Die französische Nation sei Produkt einer Mischung von Rassen und Kulturen, und die eigentliche Französische Revolution habe nicht 1789 stattgefunden, sondern 1889, als der Philosoph Henri Bergson den Aufsatz „Versuch über die unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins“ veröffentlichte, behauptete er. Solch feinsinniger Spott blieb ohne Nachhall. Vielleicht lag es an Senghors allzu verkünstelter Sprache.

Aus senegalesischer Sicht sagt der Zeitpunkt seines Todes mehr über Senghors Nachwirken aus als sein Werk selbst. Er starb im Jahr, als unter anderem auf Drängen Senegals die „Afrikanische Union“ entstand, die den virtuellen Staatenbund „Organisation für Afrikanische Einheit“ in eine wirkliche politische Union überführen soll. Und sein Tod erfolgte genau zu dem Zeitpunkt, als auf dem zentralen Platz von Dakar der Pokal der Fußballweltmeisterschaft ausgestellt wurde, derzeit in Händen Frankreichs. Im Eröffnungsspiel der WM 2002 spielt Frankreich gegen Senegal. Das hätte Senghor gefallen.