Die Religion des Westens

Der Glaube an das Geld hält die modernen Gesellschaften zusammen – und er sichert die Kultur der Freiheit. Mit dieser These eröffnete Georg Simmel das 20. Jahrhundert. Der Euro bestätigt sie erneut

von RALPH BOLLMANN

Man kann es nicht mehr hören. Dem Westen seien die Werte abhanden gekommen, klagten die Kulturpessimisten nach dem 11. September. Wer keinen Glauben mehr habe und keine Religion, sei den Bin Ladens dieser Welt hilflos ausgeliefert. Wer nur noch auf den ökonomischen Mehrwert setze, habe die Zukunft schon verspielt.

Kein Glaube? Keine Religion? Da sind Peter Scholl-Latour und seine Gesinnungsgenossen inzwischen gründlich widerlegt. Die Einführung des Euro löste einen Wirbel aus wie im Mittelalter jene Termine, zu denen der Weltuntergang erwartet wurde. Als die Banken im Dezember erste Münzen unters Volk brachten, war der Ansturm größer als bei jeder Marienwallfahrt.

Das Geld ist die Religion des modernen Menschen – und dieser Glaube ermöglicht erst seine individuelle Freiheit: Mit dieser These wagte sich der Berliner Philosoph und Soziologe Georg Simmel im Jahr 1900 hervor. Seine 700 Seiten starke „Philosophie des Geldes“ erschien nur wenige Monate nach In-Kraft-Treten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das alles menschliche Zusammenleben auf Geldbeziehungen zurückführte. Hundert Jahre später ist Simmels Analyse aktueller denn je.

Schon Karl Marx schrieb, das „vertrackte“ Geld stecke voll „theologischer Mucken“. Doch den meisten Wirtschaftswissenschaftlern gilt es bis heute als bloßes „Mittel“ zum Tausch von Gütern oder zur Speicherung von Werten. Für das Wesen des Stoffes, mit dem sie täglich umgehen, haben sie sich nie interessiert. „Kein Nationalökonom weiß, was Geld ist“, klagt der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Hajo Riese. Fast scheint es, als wollten sich die Experten von ihrem Gott kein Bild machen.

Dabei ist das vermeintliche Mittel längst zum Selbstzweck geworden. Nichts auf der Welt lässt sich universeller einsetzen. Fast alles auf der Welt hat sein Äquivalent im Geld. Damit, so Simmel, erfülle es genau jene Definition des Göttlichen, die der Theologe Nikolaus von Kues im Mittelalter formulierte: „Alle Mannigfaltigkeiten und Gegensätze der Welt“ gelangten „in ihm zur Einheit“. Wie einst die Religion, so stiftet heute auch das Geld einen Sinn über den Tod hinaus. Immer mehr Menschen richten von ihrem Erbe eine Stiftung ein, um mit ihrem Vermögen über die eigene Lebensspanne hinaus zu wirken.

Allerdings ist die Religion des Geldes kein sinnenfroher Glaube. Sein Kult folgt nicht dem opulenten Vorbild des römischen Katholizismus mit seiner barocken Pracht, sondern dem Modell des kühlen Protestantismus mit all seiner Nüchternheit. Die Wahlverwandtschaft zwischen Kapitalismus und protestantischer Ethik hatte schon Simmels Zeitgenosse Max Weber herausgestellt. Kritisch und intellektuell ist das Verhältnis der Gläubigen zum Geld. Würden sie sich von Gefühlen leiten lassen – sie hätten ihr höchstes Gut schnell verspielt.

Aufs Engste war die Entwicklung der Geldwirtschaft deshalb mit dem Aufkommen des abstrakten Denkens verzahnt. Als bei den Griechen im 7. Jahrhundert vor Christus die ersten Goldmünzen in Umlauf kamen, traten gleichzeitig die ersten Philosophen auf den Plan. Und das radikal neue Denken der Renaissance entwickelte sich mit dem modernen Bankwesen in den italienischen Stadtrepubliken.

Das ist kein Wunder, denn für den Gebrauch des Geldes wie des Intellekts braucht der Mensch Distanz – jene Distanz, die nötig ist, Dinge nüchtern und kritisch zu betrachten. „Der indizierte Partner für das Geldgeschäft“, schreibt Simmel, „ist die uns innerlich völlig indifferente, weder für uns noch gegen uns engagierte Persönlichkeit.“ Am besten also der Fremde. Gerade wegen ihrer Fremdheit in der christlichen Umwelt seien jüdische Intellektuelle und Geschäftsleute, so glaubte der Jude Simmel, für diese Tätigkeiten besonders geeignet gewesen.

Die konservativen Massen begegneten einer solchen Geisteshaltung von Anfang an höchst skeptisch. Schon im alten Athen, so Simmel, habe das Volk eine Aversion gegen den „Intellektualismus der Sophisten und des Sokrates“ gehegt. Das „neue, unheimliche Machtmittel des Geistes“ habe „seine aller überlieferten Schranken spottende Macht zuerst so oft im Niederreißen“ gezeigt – „neutral und herzlos wie das Geld“.

Doch der Vormarsch von Geld und Geist blieb unaufhaltsam, trotz vieler herber Rückschläge. Und das bedeutete vor allem eines: Freiheit für den Einzelnen. Das Geld ersetzte die persönlichen Bindungen der ständischen Gemeinschaft durch die anonymen Abhängigkeiten der modernen Gesellschaft. Die persönliche Lebensführung war nicht mehr durch Geburt und Einbindung ins Kollektiv festgelegt. Jeder, der über Geld verfügt, kann über seinen Weg tagtäglich selbst entscheiden. Darin sah Simmel, gegen alle Kulturpessimisten seiner Zeit, den großen kulturellen Fortschritt – auch wenn diese Entscheidungen den Einzelnen überfordern können.

Durch das Geld wird die Welt immer bunter – und gleichzeitig immer einförmiger. Das gilt auch für die materialisierte Form des Geldes, die Währungen: Sieben von ihnen mussten nach der deutschen Vereinigung von 1871 weichen, um der Mark Platz zu machen. Der Euro hat erneut elf verschiedene Währungen verdrängt, und die ersten Ökonomen fordern bereits eine Weltwährung.

In dieser Wechselwirkung von Einheit und Vielfalt sah der Historiker Thomas Nipperdey das entscheidende Merkmal der Moderne – und es ist ein Prozess, der zu einem großen Teil über den Kult des Geldes vermittelt wird. Niemand kann sich ihm entziehen, will er nicht zu einem chancenlosen Außenseiter werden. Ohne die immer leichtere und immer schnellere Verfügbarkeit von Geld könnten die multinationalen Konzerne nicht operieren. Aber auch die Globalisierungsgegner gäbe es nicht, wenn sie ihre Aktionen nicht mit Hilfe des anonymen Geldes vorbereiten könnten.

Selbst bei Ussama Bin Laden ist nicht klar, ob er im Grunde mehr an den Islam oder an den Kult des Geldes glaubt. Sein Feldzug gegen die Religion des Dollars wäre ohne eben dieses Geld nicht möglich. Und auch ein Peter Scholl-Latour sichert sich ein angemessenes Honorar, bevor er vor laufender Kamera zu seinen Tiraden gegen die materialistische Spaßgesellschaft ansetzt.