Nabelschnur in die Welt

Vor 150 Jahren wurde das erste transatlantische Telegrafenkabel gelegt. Es führte um die Welt, weil es um die Welt ging – und war der Geburtshelfer des Internets

von CHRISTIAN HOLTORF

Als der amerikanische Maler Samuel B. Morse 1832 den elektrischen Telegrafen erfand, befand er sich mitten auf dem Atlantik, an Bord des Postschiffes „Sully“. Er arbeitete an einem großflächigen Gemälde, das eine Museumsgalerie des Pariser Louvre darstellte.

Abgebildet ist ein hoher Raum, die Wände sind voll gepackt mit knapp vierzig Malereien verschiedenster Sujets, davor Leute, die an Staffeleien sitzen, um Kopien anzufertigen. Im Hintergrund öffnet sich ein Gang, in dessen Tiefe sich der Blick des Betrachters zu verlieren scheint. Das Bild sollte Morses Eindruck von der abendländischen Kultur zusammenfassen.

Während der sechswöchigen Überfahrt von Le Havre nach New York wurde auf der „Sully“ intensiv über das neue Wissenschaftsfeld der Elektrizität diskutiert. Morse ging begeistert darauf ein und fing in seiner Kabine an, die ersten Skizzen eines elektrischen Telegrafen zu entwerfen. Er mag sich an eine der von ihm gemalten Staffeleien versetzt gefühlt haben, um mit Hilfe der Telegrafie die Welt noch besser abbilden zu können. Der künstlerische Erfolg Morses war gering. Doch der 1837 patentierte Morseapparat sollte das Abendland mit einer bis heute unvergleichlichen Wirkung repräsentieren.

Denn die große Hoffnung der elektrischen Telegrafie war das Internet: die Kommunikation zwischen Kontinenten. Nach der Verlegung eines Telegrafenkabels durch den Atlantik gelang am 5. August 1858 unter Leitung des Industriellen Cyrus W. Field die erste transatlantische Verbindung.

Das Kabel führte von Valentia an Irlands Westküste zur Trinity Bay in der englischen Kolonie Neufundland. Aufregung und Euphorie nach der gelungenen Verlegung waren so groß, dass sie als welthistorischer Einschnitt gefeiert wurde. Erstmals ließ sich im selben Moment zwischen Alter und Neuer Welt kommunizieren, wofür Schiffe mindestens ein bis zwei Wochen benötigten.

Doch die technische Meisterleistung war nicht allein ein Werk von Ingenieuren, sondern auch von Propheten und Missionaren – Malern der Welt wie Samuel Morse. Der geradlinige Verlauf des Telegrafendrahts zwischen den beiden am nächsten gelegenen Landpunkten entsprach dem darin liegenden Zeitversprechen: Wie auf einer Linie schreite auch die Geschichte voran, mittels Fortschritt vom Ursprung zur Erfüllung, einer elektrischen Hoffnungsordnung vom Minus- zum Pluspol. Das Kabel verband technologische Innovation mit heilsgeschichtlicher Hoffnung, indem es durch die Tiefe des Ozeans in die ersehnte Zukunft zu führen schien. Das Atlantikkabel führte um die Welt, weil es um die Welt ging.

Die Bedeutung, die dem neuen Kabel zugesprochen wurde, spiegelt sich auch in einem Telegramm von Daniel F. Tiemann, Bürgermeister von New York, an seinen Londoner Amtskollegen Robert Walker Carden: Das Kabel sei ein „Triumph von Wissenschaft und Energie über Zeit und Raum, der Frieden und Wohlstand verbreitet und eine weltgeschichtliche Epoche eröffnet, die die Grenzen des Verstandes überwindet“.

Wenig später sah US-Präsident James Buchanan in der neuen Verbindung ein „von göttlicher Vorherbestimmung ausersehenes Instrument zur Verbreitung von Religion, Zivilisation, Freiheit und Recht über die ganze Welt“. Mit dem Atlantikkabel sollte die Vereinigung der Welt und der Übergang in eine überirdische Ordnung beginnen – doch es erleichterte auch die Verbreitung des Wortes noch in dieser Welt.

Das ehrgeizige Projekt stieß nicht nur auf das Interesse von Unternehmern und Politikern, sondern auch auf größte öffentliche Aufmerksamkeit. Die Telegrafie galt schon damals als, wie es hieß, „ständiges Wunder, das besser eine spirituelle als eine materielle Kraft genannt werden sollte“. Die weltumspannende Verbindung erneuerte die Vorstellung der Entdeckungsfahrten, nach der im Westen, wo die Sonne versinkt, zugleich Tod und Erlösung lägen. Das himmlische Jerusalem, dachte auch Kolumbus, sei Amerika.

Wie Kolumbus jedoch nicht den amerikanischen Kontinent wahrnahm, sondern sein Bild der Neuen Welt auf die entdeckten Inseln projizierte, hat auch die Atlantiktelegrafie zuallererst Erscheinungen transportiert. Noch während der Vorbereitungen für die erste Transatlantikverlegung schickten die Ingenieure eine Nachricht durch das 2.500 Meilen lange, aber noch aufgerollte Kabel, um die Betriebsfähigkeit zu testen. Die Botschaft lautete: „Land in Sicht: alles in Ordnung!“

Noch im irischen Hafen liegend, kündete das Kabel also ironisch von einem Land in Sichtweite. Morses Vision wiederholte sich im Bild des erhofften Ziels, der überwundenen Begrenzung, der umrundeten Erde (um vielleicht von hinten her, wie Heinrich von Kleist seinerzeit vorschlug, in das Paradies zurückzukehren).

Denn der Telegrafendraht stellte eigentlich keine Verbindung mit der Ferne her, sondern breitete nur sein eigenes Prinzip Nähe aus. Am Tag der neuen Verbindung mit Amerika triumphierte die britische Times: „Seit der Entdeckung des Kolumbus wurde nichts getan, was mit dieser gewaltigen Ausdehnung der menschlichen Handlungsmöglichkeiten vergleichbar wäre. Es gibt keinen Fleck auf der Erdoberfläche mehr, der nicht in unmittelbarer Kommunikation mit uns stehen könnte. Wir wissen jetzt, dass wir die Voraussetzungen für praktische Allgegenwart in unseren Händen halten.“ Das Entfernte schien nah gerückt, die Fremde hatte ihre Macht kurzzeitig verloren.

Das erste Telegrafenkabel nach Amerika hielt jedoch nur vier Wochen. Es soll ungefähr vierhundert Meldungen übermittelt haben. Warum es aufhörte zu funktionieren, ist bis heute unklar geblieben. Vermutlich waren technische Unvollkommenheiten die Ursache. Erst als acht Jahre später der amerikanische Bürgerkrieg ein Ende fand, konnte ein neues Kabel verlegt werden.

Die Bedeutung von Morses Erfindung lag nicht in ihrem Beitrag zur Überwindung, sondern zur Mechanisierung der Zeit und ihrer Abtrennung von subjektiver Erfahrung. Das Atlantikkabel wäre ohne eine aufwendige Zeittechnologie noch nicht einmal zu verlegen gewesen. Eine präzise Zeitmessung war Voraussetzung für die wetterunabhängige Orientierung mit Uhr und Kompass und für sicheres Manövrieren. Später sollte die genaue Orientierung zur See wichtig werden, um defekte Kabel wieder auffinden zu können.

„Die Zeit“, hielt der Philosoph Ernst Cassirer im Jahre 1929 fest, „ist kein bloß ideelles Netzwerk für die Ordnung des Früher und Später; sondern sie selbst ist es, die das Netz spinnt.“ Auch die Telegrafie wirkte an der Verbreitung einer einheitlichen Weltzeit aktiv mit. Das Paradigma Transatlantikkabel wurde zur Spedition für Maßregelung. Selbst die Sprache verstümmelte es zum Telegrammstil und schließlich zum maschinellen Idiom.

1866 wurde mit Hilfe des zweiten Atlantikkabels der exakte Abstand der Längengrade zwischen den Observatorien im englischen Greenwich und im amerikanischen Harvard bestimmt. Weil immer mehr Orte ihre eigene, minutengenaue Zeit erhielten und der Überblick immer schwieriger wurde, drang das Militär auf Vereinheitlichung. Es war naturgemäß an schneller und eindeutiger Kommunikation interessiert. Nebenbei gesagt: Auch die Verlegung des Atlantikkabels konnte nur gelingen, weil britische und amerikanische Marine zwei schwere Kampfschiffe zur Verfügung gestellt und dadurch mit dem Kabel auch ihren Begriff vom Weltfrieden selbst ausgelegt hatten.

Medientheoretiker Marshall McLuhan hat behauptet, die Elektrizität erscheine nur zufällig visuell und auditiv, sie sei in erster Linie ein taktiles Medium. Demzufolge konnte das Atlantikkabel Menschen und Kontinente nur miteinander verbinden, indem es sie berührte. Berührung ist ganz wörtlich zu verstehen. Auch Stefan Zweig beschrieb das Kabel als eine „gigantische Nabelschnur zwischen zwei Weltteilen“. Inzwischen hat sich in der Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen eine Fürsprecherin des verknoteten Bauchnabels gefunden. Er allein sei körperliches Mahnmal gegen Allmachts- und Unsterblichkeitsfantasien, wie sie auch die submarine Telegrafie mitversende.

Die technologische Aufknotung und Rückverlegung der Nabelschnur überschreitet diesen verknoteten „Demarkationspunkt zwischen dem Innern und dem Äußeren“ (Bronfen). Fantasie und Technologie greifen nicht erst seit Samuel Morse ineinander. Das Bild von der Welt aber wird erst im World Wide Web selbst real. Das erste transkontinentale Unterseekabel ist die Geburtsstunde des Internets. Nach dieser Archäologie des Virtuellen hat jede Informationsübertragung nur eine Botschaft: Land in Sicht, alles in Ordnung!

CHRISTIAN HOLTORF, 33, promovierte über die frühe Atlantiktelegrafie und arbeitet nun am Deutschen Hygiene-Museum Dresden