Ein produktiver Zweifler

Der mexikanische Autor Carlos Monsiváis ist abergläubischer Atheist, absolut rationaler Fan des Melodramas, Stadtsüchtiger und Straßenintellektueller. Ein Porträt

von ANNE HUFFSCHMID

Während ich mich auf der abgewetzten Couch niederlasse, fixiert mich die Postmoderne aus glühenden Bernsteinaugen. Und schnurrt, endlich, ein klein wenig. Die flauschige Angorakatze, die stolz auf einem der unzähligen Papierberge thront, ist hier eindeutig Königin.

Die Herrschaft muss sie sich allerdings mit zehn anderen Katzen teilen, die gleichfalls auf so klingende Namen wie Genialer Mythos oder Plüschfetisch hören. Verschanzt hinter einem schwarzen Garagentor, in einem der wenig glamourösen Viertel im Süden von Mexiko-Stadt, wohnt seit 58 Jahren einer der eigensinnigsten Autoren Lateinamerikas: Carlos Monsiváis, von Verehrern schlicht Monsi genannt, aus ehrfürchtiger Distanz auch Maestro.

Während bei Kollegen vergleichbaren intellektuellen Gewichts Diego-Rivera-Gemälde an der Wand hängen und prähispanische Vasen auf dem Boden stehen, quellen bei Monsiváis die Regale von bunten Plastikminiaturen über. Barbusige Freistilringer und kleine Boxarenen, Videokassetten und geheimnisvolle Kästchen. Der Meister sammelt so ziemlich alles, was die cultura popular hervorgebracht hat, von Postkarten, Comics, Cartoons bis zu Kinderbüchern.

Kaum ein alltagskulturelles Phänomen oder politisches Szenario, das der Autor mit seiner Schreibe nicht schon seziert hätte: ob Tanzsalons oder Fernsehserien, Rock oder Kino, alle Sorten Literatur. Aber auch Aids oder John Lennon und immer wieder die „Rituale des Chaos“, so ein Titel einer Essaysammlung zum Konsumspektakel in Mexiko-Stadt, einer Metropole, die für Monsiváis ebenso monströse wie faszinierende Urmutter aller Urbanität ist.

Den mexikanischen Alltag nimmt sich Monsiváis genauso vor wie die Verrenkungen des politischen Establishments. Seine Zeitungskolumne mit kommentierten Politikerzitaten gehört zur Pflichtlektüre in Sachen politischer Kultur im Lande. Viele seiner Kommentare („Freundschaft, die sich nicht in der Gehaltsliste niederschlägt, ist reine Demagogie“) sind zu geflügelten Worten geworden.

Als „kaleideskopischen Resonanzboden“ bezeichnet der Kulturkritiker Gerardo Ochoa Sandy den 63-jährigen todologo (von todo, alles), der als einer der letzten Generalisten der realexistierenden Moderne Lateinamerikas fungiert. Und als intelectual callejero, als Straßenintellektueller im wahrsten Sinne des Wortes: Keine bedeutsame Demonstration, an der nicht am Rande die leicht gebeugte Gestalt gemächlich mitmarschiert. Ob zur Beerdigungszeremonie von massakrierten Indios in einem abgelegenen Hochlanddorf, am Grab eines ermordeten linken Anwalts oder bei der Trauerfeier des 1998 verstorbenen Dichterfürsten Octavio Paz im Palast der Schönen Künste – Monsiváis ist immer da, wo gerade ein wenig Geschichte gemacht wird.

So auch beim Dschungelkonvent im Sommer 1994, zu dem der maskierte Subcomandante Marcos, Sprecher der unorthodoxen Zapatistenguerilla, eine Reihe von linksliberalen Prominenten einlud. Monsiváis gab sich zwar anfänglich skeptisch bei der Aussicht auf „Predigten aus der stalinistischen Gruft“. Gekommen ist er, im Unterschied zu anderen Ehrengästen wie Carlos Fuentes, dennoch – wenn auch ausdrücklich nicht als geladener Gast, sondern als Journalist. Als solcher hat er das dreitägige Zeltlager im Lacandonenwald, trotz Dauerregen und verknackstem Fuß, tapfer durchgestanden.

„Meine Wald- und Wiesenqualitäten sind verbesserbar“, notiert er in einer Chronik des Treffens selbstironisch. In den folgenden Jahren wird er einer der bevorzugten Gesprächspartner von Marcos, mit dem ihn – über den Abgrund der Waffen hinweg – so etwas wie eine stilistische und politische Seelenverwandtschaft verbindet. Nicht umsonst kursiert seit Jahren in Mexiko das Bonmot, der Subcomandante mit seiner Vorliebe für Paradoxien und Ironie habe offenbar „mehr Carlos Monsiváis als Karl Marx“ gelesen.

Dabei gelingt Monsiváis etwas, was bei der verbreiteten Selbstgefälligkeit seiner Zunft selten zu finden ist: die Abwägung zwischen Solidarität und Dissens, zwischen Respekt vor den aufständischen Zapatistas und scharfer Kritik, etwa an Militarismus und Märtyrerdiskursen. Ungewöhnlich ist vor allem das Eingeständnis, dass die Indioguerilla am eigenen Weltbild gerüttelt habe: In seinem Briefwechsel mit Marcos schreibt er, „dass ich vor eurer Erhebung die indigene Sache in rassistischer Manier für eine verlorene Sache gehalten hatte“.

An die Stelle aller Gewissheiten – Identifikation der einen, Verurteilung der anderen – tritt so etwas wie produktiver Zweifel. Querdenker, selten passte das Wort so gut: quer zu allen Genres, Spezialisierungen und politischen Schubladen, allergisch gegen Dogmen, Ghettologik und Sektierertum. An Streikaktivisten verfasst er ebenso offene Briefe wie an orthodoxe Guerillagruppen. Auch ist Monsiváis einer der wenigen Linksintellektuellen des Landes, die Aufrufe gegen Fidel Castro unterzeichnen.

Das Etikett eines klassichen Liberalen wäre dennoch fehl am Platz. Eher ist er ein Libertärer, der bei allem Skeptizismus eine radikale Moral pflegt. Sein Engagement für Minderheiten- und Menschenrechte, gegen Rassen-, Schwulen- und Frauenhass ist kompromisslos. Für die Feministin Marta Lamas ist Monsiváis („mein irdischer Guru“) gar der „beste Komplize des Feminismus“.

Dessen Homosexualität ist selbstverständlich und stadtbekannt. Und noch immer provozieren sexuelle Grenzgänger im homophoben Mexiko, mit seinen Machokulten und katholischen Konventionen. Und zwar längst nicht nur die Gemüter, wie die nicht abreißende Mordserie an Prostituierten und Transvestiten des Landes zeigt. „Für die meisten sind diese Minderheiten noch immer ein Spektakel“, sagt Monsiváis, „und nicht etwa Träger von Rechten.“ Dennoch ist er überzeugt davon, dass die Modernisierung des common sense („als Schutzengel“) und der gesellschaftlichen „Erkenntnisprozesse“ („als Fortsetzung des Schutzengels auf irdischem Wege“) unaufhaltsam ist.

Sein Credo von Diversität und Dissidenz, also vom zivilisierten Miteinander der Verschiedenen, beschränkt sich keinesfalls auf die bürgerrechtliche oder kulturelle Sphäre. Die massenhafte Armut, der die Hälfte aller Mexikaner ausgesetzt ist, wertet er „als schlimmste Form der Ausgrenzung“, das marktliberale Einheitsdenken ist ihm „einer der übelsten Fundamentalismen“.

War Carlos Monsiváis einer der schärfsten Kritiker des alten Regimes, so hat er auch im gewendeten Mexiko gute Chancen, zu einem der Lieblingsfeinde des neuen Präsidenten Vicente Fox zu werden. „Für mich ist Monsiváis gar kein Intellektueller“, hatte der Konservative erwidert, als ich diesen während seines Wahlkampfs zu den Warnern vor einem reaktionären rollback befragte. „Fox ist ja auch ein echter Experte in intellektuellen Fragen“, kommentiert Monsevaís heute sarkastisch. Aus seiner Abneigung gegen den ehemaligen Coca-Cola-Manager, der im Jahre 2000 – in erstmals demokratischen Wahlen – die 71 Jahre währende autoritäre Quasidiktatur der Revolutionär-Institutionellen Partei (PRI) ablöste, macht er kein Hehl.

Schließlich vereint der neue Regierungschef so ziemlich alles, was einem queren Geist zuwider sein muss: ein krudes Machocharisma, gepaart mit katholischer Frömmigkeit und einem streng wirtschaftsliberalen Weltbild. Ein einziges Verdienst hält Monsiváis ihm zugute: „Der Sturz der PRI ist ein historischer Fortschritt.“ Und was danach kommt, hänge ohnehin weniger von oben denn von unten ab.

Den Autor umgibt, auch das scheint paradox, eine Art Glamour wider Willen. Er ist begehrter Gast bei Buchvorstellungen und Podiumsdiskussionen, geleitet schon mal die Kinodiva María Félix zur Beerdigung des berühmten Komikers Cantinflas, bezeugt Vertragsabschlüsse des Schlagerstars Juan Gabriel und ist Festredner auf der Femmage für die legendäre Sängerin Chavela Vargas.

Bei Gängen durch die Altstadt, so berichten Begleiter, bitten Passanten um Autogramme auf Metrofahrscheinen und Einkaufstüten. „Ich kann mich dem Autogramm ja nicht verweigern“, meint er und der Anflug eines Lächelns legt sich in seine leicht schmollenden Mundwinkel. „Aber ich kann mich weigern zu glauben, dass ich jemand bin, dessen Autogramm von Interesse ist.“ Das klingt nicht mal allzu kokett.

Sein Telefon klingt alle paar Minuten, es ist ganz offenbar die Standleitung der Monsi-Festung in die Außenwelt. Immer wieder ein knappes, entschuldigendes Nicken Richtung Besucherin. Es geht um Einladungen, um Politisches und Privates. „Wie war die Hochzeit?“, murmelt er in den Hörer, oder auch ein englisches „Hi“ oder „Hat er mit dir Schluss gemacht?“ Seine Allgegenwart, so Marta Lamas, mache Monsiváis zur „großen mythischen Figur der Linken“, die längst zum Protagonisten auf jener Kulturbühne geworden ist, die der Mythenforscher so unermüdlich beschreibt. „Man kann nicht durchs Land laufen, ohne ihn an jeder Straßenecke zu sehen“, schreibt die Literatin Rosa Beltrán.

Dabei bemüht sich der kauzige Kopf nach Kräften, sich die Welt vom Leib zu halten. Zuweilen mit recht bizarren Methoden: Wer den Maestro telefonisch erreichen will, dem antwortet mitunter die Stimme einer uralten Frau oder die eines blutjungen Mannes. Nein, das sei kein Gerücht, das „Spiel mit fremden Stimmen“ amüsiere ihn, sagt er in seinem echten, etwas schläfrig anmutenden Timbre.

Die Reporter, die vor mir einen Termin hatten, machen zum Schluss noch ein paar Kunstfotos. Eine Agavensilhouette und ein kleines Lichterspiel werden auf die weißumkränzte Denkerstirn projiziert. Der Maestro lässt es stoisch über sich ergehen. „Ich habe einen Horror vor meinem eigenen Bild“, gesteht er später. Seinen elf Gefährtinnen hingegen schaut Monsi umso lieber zu. „Ich staune immer wieder angesichts dieser mobilen Schönheit, der Temperamentswechsel, der perfekten Mischung aus Hilflosigkeit und Egoismus – und dass sie so wunderbar undankbar sind“, sagt er und krault einer von ihnen zärtlich den Nacken.

Irgendeine Seelenverwandtschaft? Um Himmels willen, wehrt er ab, „ich habe nicht die Grazie, und außerdem bin ich ein dankbarer Mensch.“ Vor allem, fügt Carlos Monsivaís zum Abschied noch hinzu, seien seine Katzen „ganz und gar unberechenbar“. Also doch.

ANNE HUFFSCHMID, 37, lebt als freie Autorin (und taz-Korrespondentin) seit neun Jahren überwiegend in Mexiko-Stadt. Zuletzt berichtete sie für das taz.mag (1. Dezember 2001) über die Menschen am Popocatepetl