Aus der Welt geworfen

Vergessener Sozialkritiker: Eugeen van Mieghems Auswandererporträts im Barlach-Haus  ■ Von Petra Schellen

Die Blätter sind über 100 Jahre alt. Sie zeigen vertraute Etappen europäischer Geschichte. Und doch sind sie immer noch kaum bekannt, die Gemälde, Pastelle und Zeichnungen des Flamen Eugeen van Mieghem (1875–1930), die derzeit im Barlach-Haus zu sehen sind – einem Museum, dessen idyllische Lage im Jenischpark über den politischen Charakter mancher Ausstellung hinwegtäuscht: Als erste deutsche Gesamtwerkschau van Mieghems gilt die Ausstellung, die das Barlach-Museum gemeinsam mit dem Käthe Kollwitz-Museum Berlin und Schloss Wernigerode konzipierte und die eine vergessene Facette der Moderne präsentiert.

Dass die Moderne auch Sonderwege zuließ, soll die Schau zeigen, so Museumsleiter Sebastian Giesen. Und sie soll ins Bewusstsein rufen, dass der Maler seiner Zeit weit voraus war – und zwar vor allem aufgrund der Tatsache, dass der Antwerpener an einem Hafen aufwuchs, der zwischen 1873 und 1923 wichtigster Auswandererhafen nach Nordamerika war. Pogrome waren seit 1900 Hauptgrund für die massenhafte Flucht vor allem osteuropäischer Juden, die nach Entlausungs- und Desinfektionsprozeduren auf ihre Einschiffung warteten und deren Schicksal van Mieghem seit seiner Kindheit fesselte.

Der folkloristische Aspekt ist es allerdings nicht, den der Künstler zeigt: Ein Individuum, dessen Lage aus gesellschaftlichen Verhältnissen resultiert, präsentiert er etwa im Porträt eines Auswanderers von 1903 – einer holzschnittartigen Figur, die an Käthe Kollwitz erinnert und nicht auf vordergründiges Mitleid zielt. Typen hat van Mieghem vielmehr gezeichnet, entschlossen dreinblickende und solche, deren Gesicht unter Hut und Bart verschwindet.

Resultate ihrer Geschichte sind diese Menschen, Außenseiter, die als nirgends mehr kompatible Gestalten durch Europa reisen. Wie bizarre, fremde Gebirge waren sie plötzlich ins westliche Resteuropa geworfen, von wo sie die Red Star Line nach Nordamerika brachte. Mit scharfem Blick und entschlossenem Strich hat der Künstler diese Figuren festgehalten, als habe er die Höhenlinien, die Geologie ihres Schicksals nachzeichnen wollen.

Auch die Hafenarbeiter, van Mieghems zweites großes Thema – seine Eltern betrieben eine Hafengaststätte –, porträtierte der sozialkritische Flame, der in Antwerpen zu den umstrittenen Modernisten gehörte, ohne Pathos: Fast gnaden- aber nicht würdelos zeichnet er den Mann mit Holzbein wie ein Fossil oder ein am Wegrand gefundenes Einzelstück einer Spezies, deren bloße Existenz etliche Fragen aufwirft.

Trotzdem: Vereinnahmen lassen wollte sich van Mieghem nicht, weder von der – vielleicht kaufbereiten – Antwerpener Bourgeosie noch von der sozialistischen Bewegung: Ersterer misstraute er aufgrund ihrer biographischen Ferne zum Dargestellten, letzterer wegen ihres oft auf Verherrlichung der Arbeit gerichteten Kunstbegriffs. Und sicher war auch dies ein Grund für die späte Anerkennung des Flamen, dessen Stil symbolistische Farbigkeit mit Daumierschem düs-terem Kreide-Einsatz mischt: dass er in einer Epoche, in der Toulouse-Lautrec vergnügte Bohemiens malte, Hafenarbeiter und kleine Ganoven ins Zentrum stellte. Nachts im Dock heißt zum Beispiel ein Blatt – eine Diebstahl-Szene, die dem Pas-tell Hafenarbeiter beim Verladen fast exakt gleicht. Deutlicher konnte van Mieghem nicht sagen, dass der nächtliche Diebstahl nur die andere Seite der Hafenarbeit ist – und logische Folge des Wunsches der Arbeiter, wenigstens einen Teil dessen zu besitzen, was sie täglich von den Schiffen wuchten.

Aber bei dieser Andeutung bleibt es auch: Moralisierend wird van Mieghem nicht; seine Bilder bieten genug Gelegenheit zur Reflexion, präsentieren sie doch nie Individuen, sondern immer Typen, die auf die dahinter liegende gesellschaftliche Struktur verweisen. Der Einzelne als Rädchen im Getriebe, als Resultat der Umstände steht im Zentrum seiner Bilder, unter denen die Porträts am stärksten sind.

In puncto Anerkennung kam allerdings erschwerend hinzu, dass van Mieghem das wenig populäre Thema der unfreiwilligen Auswanderung osteuropäischer Juden und den Hafenarbeiterstreik von 1907 zu einem Zeipunkt aufgriff, als man in Westeuropa darüber lieber geschwiegen hätte.

Dabei erfasst van Mieghem das Flüchtlingsproblem aus der Distanz treffender als aus der Nähe: Latent pathetisch wirken die Blätter, die van Mieghem auf seiner eigenen Flucht – nach dem deutschen Angriff 1914 auf Antwerpen – erstellte: Romantisierend erscheinen etwa die Kriegsflüchtlinge (1915), die vor hell lodernden Städten fliehen. Vernebelt wirkt hier van Mieghems Blick – eine Tatsache, die man dem Fliehenden kaum zum Vorwurf machen kann.

Denn dass er der überzeugenden Balance zwischen Nähe und Distanz fähig war, hatte er in den Porträts seiner Frau Augustine bewiesen, die 1905 mit 24 Jahren an Tuberkulose starb: Das verletzliche, ausgemergelte Gesicht der Sterbenden ist zentrales Motiv dieses Werkkomplexes. Stumme Erschöpfung steht der Kranken ins Gesicht geschrieben, deren Anatomie auf Bildern wie Augustine, krank von 1905 merkwürdig verdreht ist: Den rechten Arm wie eine Barriere gegen das schwindende Leben vors Gesicht geklappt, wirkt sie schon leicht entrückt. Männlich-herbes Totengesicht ist sie in einer späteren, sehr dichten Frontalansicht.

Interessant wäre es hier gewesen, die Entstehungsmonate zu wissen, um die Sterbebilder chronologisch ordnen zu können: Von ferner Todesahnung bis zum Entschwinden in eine andere Dimension reichen die Porträts, die auf dem Grat zwischen Würde und zur Schau gestellter Intimität balancieren, als habe der Ehemann, der nach ihrem Tod in fünfjährige Lethargie verfiel, jede Faser seiner Partnerin festhalten wollen. Einer Geliebten, die aus Geldnot noch als Kranke ihrem Mann und befreundeten Malern in vermutlich spärlich beheizten Ateliers Modell saß – eine Tätigkeit, die ihrer Gesundheit kaum zuträglich gewesen sein kann.

Aufbruch: Eugeen Van Mieghem. Ein flämischer Maler am Vorabend der Moderne. Ernst-Barlach-Haus, Jenischpark, bis 17. Februar. Geöffnet Di–So 11–18 Uhr